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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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keine genauere Antwort.
    Seine Äußerungen sind überraschend. Manchmal erzählt er von Jászberény, jener kleinen, knausrigen Welt, die er verlassen hat. (Ein altes Bauernehepaar hat ihn dort großgezogen.) »Einmal wollt’ mich die Kuh besteigen«, sagt er, »aber ich hab sie weggestoßen.« Er ist aufmerksam und kann sich benehmen. Isst ordentlich bei Tisch, hält den Löffel richtig und geschickt, mit einem Stückchen Brot hilft er dem widerspenstigen Bissen auf den Löffel. Er hat ein großes Bedürfnis nach Liebe; ständig läuft er mit ausgebreiteten Armen zu L. und umarmt sie.
    Ich frage L. , ob es nicht ratsam wäre, jetzt endlich auch eine andere Art von Lebewesen ins Haus zu nehmen, zum Beispiel eines, das man auch essen kann. Doch solche Lebewesen sind heutzutage selten.
    L. hält sich an das Gesetz des Lebens , nur dies respektiert sie, nur dieses achtet sie. Ich halte mich an die Vernunft; respektiere aber, dass sie von allem Lebendigen magisch angezogen wird.
    Ich habe bereits gelernt, mich zu disziplinieren und in jeder Frage, die meine Person betrifft, aber auch in noch wichtigeren, mich beherrscht und geduldig zu äußern; über den Verrat, die Charakterlosigkeit der ungarischen Gesellschaft kann ich mich aber bis heute nicht neutral unterhalten. In solchen Fällen verliere ich jedes Maß, werde ungeduldig und aufgeregt. Es scheint, dies ist die einzige Kränkung, die wirklich wehtut.
    Ich lese die Empfehlungen zur Aufnahme neuer Mitglieder in die Akademie der Wissenschaften und weiß nicht, ob ich lachen oder dieses schändliche Heft ganz einfach in den Papierkorb werfen soll, in dem die notorischen Reaktionäre der letzten fünfundzwanzig Jahre sich beeilen, die verbannten und sich in der Emigration auf die Heimkehr als Sieger vorbereitenden Wissenschaftler zu »empfehlen« … Der Großteil der Empfohlenen verdient es ebenso, Mitglied der Akademie zu sein, wie jene, die bisher schon Mitglieder waren: Das steht nicht zur Diskussion. Doch diese keuchende Willfährigkeit, mit der ein Kornis, ein Gerevich erklären , dass sie die Abwesenheit Rusztem Vámbérys und des Rostower Kommunisten Bolgár nicht mehr dulden könnten … Wo hast du gelebt? Was hast du geglaubt? Und vergiss nicht, dass auch du die ganze Zeit, du persönlich, Akademiemitglied gewesen bist.
    Diesen Juni vertrödle ich noch mit nützlicher Faulenzerei, laufe Lebensmitteln und Brennholz nach. Auch blühen die Rosen jetzt auf. Zum Arzt muss ich ebenfalls. Dann ist es aber genug mit Organisieren und Reparieren … Ich will arbeiten, bis zur Vernichtung.
    Wie gleichgültig mir diese vielen »Probleme« sind! Diese marktschreierischen Zeitungen! Diese verschlagene Gesellschaft! Es geht hier um ganz etwas anderes: Es geht nur um die Arbeit, die ausschließlich mit dem Individuum verbunden ist; und dann um den Tod.
    Ich habe das zu Ruinen zerschossene Buda und das ramponierte Pest fotografieren lassen und möchte jetzt aus diesen Bildern für Grundschüler und spätere Raubmörder irgendein lehrreiches Heft zusammenstellen.
    Man hat sich jegliche Sentimentalität abgewöhnt, weint nicht um Steine, Erinnerungen. Nur das Leben zählt.
    Doch jetzt im Juni habe ich die Bäume in der Mikógasse wieder gesehen – bisher hatte ich sie nie beachtet – und kann mich nicht erinnern, ob mich irgendwas von dem, was ich nach der Belagerung gesehen habe, so gerührt hat. Vier Reihen Kastanienbäume haben hier gestanden, zwei Reihen auf jeder Straßenseite. An Sommermorgen hat mich das Gezwitscher aufgeweckt, das aus den dichten Kronen der Bäume in mein Zimmer drang. Ihr Duft, ihre erfrischende Kühle machten die Sommertage und -nächte oft erträglicher. Diese Bäume sind nicht mehr, so wenig wie die Häuser in der Straße. Von den sechs bis acht Meter hohen Stämmen stehen bloß noch anderthalb Meter hohe Stümpfe.
    Und diese Baumstümpfe haben jetzt, im Juni, plötzlich ausgetrieben. Dichte, saftig grüne Triebe, die wie Winden aussehen, sanftes Laub sprießt nun auf diesen verkrüppelten, versehrten, toten Stämmen. Ich mag Symbole nicht … habe die ergrünten, tödlich verletzten Bäume in der Mikógasse dennoch lange betrachtet und mich dabei geschämt.
    Überleben kann man das alles vielleicht nicht; doch überschreiben ? … Versuch es.
    Bisher haben die Pfeilkreuzler, die Nazis, die Deutschen und Russen »requiriert«; jetzt raffen alles, was übrig ist, die ungarischen politischen Parteien für sich zusammen. Heute teilen sie die Kinos

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