Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
untereinander auf, morgen den Rundfunk, dann die Buchverlage oder die Kaffeehäuser und Bordelle. Niemand protestiert. Es gibt keinen zentralen Willen, die Regierung, wenn sie denn wollte – selten will sie etwas! –, reibt sich zwischen den Parteien auf. Nur der Diebstahl lebt, er ist die Achse, um die sich das Leben dreht.
Ich sehe mir die Fotos an, auf denen die Budapester Statuen, die während der Belagerung und danach gestürzt wurden, abgebildet sind. Werbőczy , Tisza , Gömbös, Baross … Diese Bilderstürme waren nicht ganz spontan. Ich glaube nicht, dass der »Volkswille« die Denkmäler zerstört hätte: Das Ganze ist eher eine Demonstration der politischen Parteien.
Eines ist gewiss: Es schadet nicht, wenn ein Denkmal seine Zeit abwartet. Zwei-, dreihundert Jahre sind das Mindeste, bevor sich entscheidet, ob eine menschliche Persönlichkeit reif genug war, um ihr eine Statue zu errichten. (Und auch dann noch: Werbőczy hat lange und vergeblich gewartet!) Denkmäler, Straßennamen; die Zeit geht mit solchen Würdigungen ziemlich gleichgültig um.
Vorsicht schadet nicht. Wer weiß, vielleicht war auch Anonymus mit seiner Statue zu voreilig. Morgen reißt ihm eine gierige Hand die Kapuze vom Kopf, die Zeit blickt ihm ins Gesicht und kreischt gnadenlos: Wir legitimieren dich nicht! …
Ich wandere bei heißem Leichengestank mit Fieber in der plötzlich ausgebrochenen Junihitze durch Buda. Bin aber schon so weit, dass ich am Abend todmüde einschlafe, ohne das Licht auszuschalten.
Ich glaube nicht, dass es einen erwachsenen Menschen gibt, der ohne Nebengedanken mit seiner Mutter leben könnte. Es gibt gewisse »genante« Erinnerungen, die niemand bekämpfen kann.
In Prousts Temps retrouvé sagt Saint-Loup im Jahre 1918: »Die Städte sind unwichtig, die Regionen sind unwichtig usw. … nur die Vernichtung der Kampfkraft des Feindes ist wichtig.« Die Prinzessin und der Prinz von Guermantes laufen im Geheul der Sirenen, die die deutschen Flieger ankündigen, in makellosem Nachtgewand zwischen dicken amerikanischen Jüdinnen, die ihre Diademe an sich drücken, in den Keller des Pariser Ritz … Scheinwerfer suchen den Himmel nach den deutschen Maschinen ab …
Alles, was Geschichte ist, wirkt monoton, sogar in den Händen eines Schriftstellers!
In Szentendre will ich das Fahrrad – welch phantastische Erfindung! – an eine Hausmauer lehnen. An der Mauer steht ein Kind, ein etwa zehnjähriger Junge, und macht eine seltsame Bewegung, als ich mich mit meinem Rad nähere. Er hört es nicht, sieht es auch nicht, spürt nur das Herannahen des Fahrrads; das Kind ist blind.
Ein barfüßiges Kind in Lumpen; es lehnt an der Hauswand, in seinem blinden Gesicht ein eigentümliches, fremdartiges Lächeln. So, lächelnd antwortet mir der Junge. Er sei schon seit seiner Geburt blind, möchte Musiker werden, Komponist. Sein Vater sei Gärtner.
Wir unterhalten uns lange. Ist das Leben für diesen Jungen wirklich schlecht? Er sieht diese Welt nicht und kann nicht bedauern, was er nicht kennt … Er lebt geschützt, exterritorial. Ich möchte ihm Geld geben, er nimmt es nicht an. »Was soll ich damit?«, fragt er.
Als ich das Geld in seine Tasche stecke, nickt er. Es überrascht mich nicht, als er sich so verabschiedet: »Auf Wiedersehen.«
Die Kommunisten – einheimische genauso wie ausländische – haben dieses Wort adoptiert: »Demokratie«. Das Wort hat im Wortschatz ihrer Zeitungsartikel, ihrer Erklärungen heute schon das Bürgerrecht. Sie haben es angenommen, wiederholen es, fordern es, sprechen darüber wie über ein Postulat.
Sie verstehen darunter natürlich die Reaktion – nicht die faschistische, sondern eine andere, kapitalistische Reaktion. Wer sich einfach nur Demokrat nennt, ist wahrscheinlich reaktionär, weil er sonst nicht Demokrat wäre, sondern Kommunist: So stellen sie sich das vor. Aus kommunistischer Sicht haben sie wahrscheinlich auch recht; Demokrat sein bedeutet, an die bedingungslose Freiheit glauben, an die Rechte des Einzelnen.
Dennoch verpflichtet dieser Begriff, den sie aus politischer Taktik angenommen haben und den sie das Bürgerrecht erlangen ließen, jetzt auch schon die Taktiker … Wörter können nicht ungestraft »adoptiert« werden. Wörter haben rückwirkende Kraft; hat jemand ein Wort in lobendem Tonfall ausgesprochen, muss er mit diesem Wort rechnen, muss vor ihm auf der Hut sein, auch wenn er insgeheim seinen Sinn und seine Existenzberechtigung leugnet. Wer mit
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