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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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einmal lernen!
    Janika träumt von Jászberény, spricht wie im Fieber vom zurückgelassenen Zuhause, wo er vom Sozialamt untergebracht worden war, und die Oma bezahlte »Mama« und »Papa« monatlich fünfzig Pengő für seinen Unterhalt. Die verlassenen Zieheltern – ein sechzigjähriges Paar – haben einen rührenden Brief geschrieben, »mit Tränen in den Augen« denken sie an Janika und erwarten ihn zurück; der Brief war folgendermaßen unterschrieben: »Horváth und Frau«.
    Dieses Verantwortungsgefühl konsterniert mich. Doch das Leben fließt dahin und wird alles in Ordnung bringen; Janika spricht schönes Ungarisch, und was er sagt, ist überraschender und interessanter als alles, was ich derzeit im Rahmen meiner Budapest-Besuche zu hören bekomme.
    Das kleine Mädchen ist tödlich eifersüchtig auf Jani; es ist blass, krank, verachtet diesen vierjährigen Bauernjungen, zeigt dies aber nicht. Es ist sehr schwer, Mensch zu sein und sich damit abzufinden, dass es auch andere auf der Welt gibt.
    Indem man zur Rechenschaft zieht, Urteile fällt, beantwortet man die Frage nicht, warum ein Großteil der ungarischen Gesellschaft reaktionär ist. Auf diese Frage eine Antwort zu finden ist die wichtigste Aufgabe der ungarischen Literatur, Wissenschaft und Geschichtsschreibung. Die Frage muss leidenschaftslos und ohne Gefühlsausbrüche beantwortet werden.
    Eine Gesellschaft denkt, man hätte ihre Lebensinteressen verletzt, wenn man ihr verbietet, reaktionär zu sein, von ihr verlangt, sich ohne Qualitätswettbewerb, allein aufgrund von Abstammung und Weltanschauung, durchzusetzen. So ist die Wirklichkeit; und mit diesem beleidigten Missmut muss man klarkommen. Es reicht nicht, diese Gesellschaft auszuloten und zu verurteilen. Man muss sie davon überzeugen, dass sie unrecht hat, wenn sie reaktionär ist, weil Reaktion nicht nur moralischen Bankrott bedeutet, sondern auch ein »schlechtes Geschäft« ist. Bleiben wir am Boden, wenn wir darüber sprechen, und fürchten wir uns nicht vor harten Worten. Auch die Reaktion fürchtete sich vor ordinären Worten nicht, als es um den Schutz ihrer Lebensinteressen ging. Diese beleidigte Gesellschaft glaubt jetzt: Es ist misslungen, was wir wollten. Wir haben uns irgendwann geirrt … Wir waren nicht geschickt oder mächtig oder unbarmherzig genug. Den Krieg haben wir verloren, nicht weil man uns militärisch geschlagen hat, sondern weil … Und weil sie die Legende vom Dolchstoß im Augenblick der völligen militärischen Niederlage der Deutschen schlecht aufwärmen können, werden sie bald eine andere Antwort finden. So wird es geschehen; man muss mit dieser sturen, dickköpfigen Selbsttäuschung rechnen. Man muss sich ihr stellen, unermüdlich, mit ruhigem Kopf und aller Kraft. Es muss – zumindest mit der gleichen Kraft und Regelmäßigkeit, wie die reaktionäre Propaganda ihre Ideen verbreitete – gesagt werden: »Ihr habt unrecht. Ihr glaubt jetzt, etwas ist misslungen, das bei nächster Gelegenheit gelingen könnte. Aber was ihr wollt – die Gewalt, den Versuch eines Wettbewerbs ohne Ehre und Qualität –, kann immer nur ein halber Erfolg bleiben. Eine Gesellschaft kann auf lange Sicht ihren Kampf nur dann gewinnen, wenn sie gerecht ist, die Gesetze des Zusammenlebens der Menschen, die sich über Jahrtausende herausgebildet haben, respektiert, wenn sie Kompromisse schließen kann und die Mühen nicht scheut, die Ehrlichkeit, Fleiß, Begabung und Bildung mit sich bringen. Jeder andere Erfolg kommt früher oder später zu Fall. Versteht doch, dass die Reaktion nicht nur ein unmoralisches menschliches Unterfangen ist, sondern auch ein mieses Geschäft. Wer auf sie baut, wird nach vorübergehenden Erfolgen seinen Kampf verlieren; auch wenn die anfänglichen Siege außergewöhnlich sind. Ohne Terror kann man in einer Welt, die das Qualitätsprinzip negiert, nichts erreichen; und Terror führt schließlich zur Anarchie … jeder Terror führt zur Anarchie.« All das muss gesagt werden. Und es muss erklärt werden, wie es so weit kommen konnte. Warum ein Großteil der ungarischen Gesellschaft das Qualitätsprinzip aufgegeben, warum sie sich der Konjunktur des »Kurses« überlassen hat. Dieses Himmelfahrtskommando hatte gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische, geistige Ursachen. Decken wir sie auf, reden wir darüber, ohne Wut und Gefühlsausbrüche, aber konsequent, bis die Menschen es wirklich glauben und verstehen. Das ist Schwerarbeit. Aber man muss damit

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