Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
anfangen.
Budapest ist immer ehrgeizig gewesen. Ich erinnere mich an eine Zeit, als die Stadt um jeden Preis »europäisch« sein wollte und pariserischer war als Paris. Diese Zeit ist vorbei. Jetzt, da sie sich zu einer balkanischen Stadt zurückgemausert hat, wird sie von Woche zu Woche immer balkanischer: Letzte Woche wirkte sie noch wie Sarajewo. Jetzt habe ich sie wieder gesehen, nun ist sie schon wie Üsküb .
Ich bin im Amtssitz des Ministerpräsidenten unterwegs und suche T. Beim Tor weist mich der Portier stolz in Richtung Aufzug. Und wirklich, im ungarischen Amtssitz des Ministerpräsidenten bringt einen schon der Lift in den ersten Stock. Diese Errungenschaft wissen wir zufrieden zu würdigen, der Portier und der Besucher. Im ersten Stock – der ungarische Ministerpräsident residiert jetzt in einem Bankgebäude – wird neu verputzt. An den Türen verkünden handgeschriebene Schilder mit blauen Lettern: »Staatssekretär«. »Abteilungsleiter«. Die Einrichtung des Büros vom Staatssekretär sieht aus, wie auch die Meublage in der Kanzlei des Fahrdienstleiters von Dombóvár ausschauen könnte. Der Geruch der Korruption füllt dieses Zimmer wie der saure Gestank, den der Kammerjäger hinterlässt. Windschiefe Möbel, verdächtige unbekannte Menschen mit duckmäuserischem Blick. Keiner weiß genau, wer der andere ist, der Staatssekretär ist ebenso von der Straße heraufgekommen, um Staatssekretär zu sein, wie der Bittsteller mit seinen Problemen. Ringsum, in der Ferne, die Parteien, die sich ins Fäustchen lachen und stehlen. Die Staatsmacht ist vorsichtig und wortkarg. Macht hat sie keine. Die Macht besitzen die Russen und die Parteien.
Auch T. empfängt mich in so einem Bahnhofsvorsteherbüro. Er hat nicht einfach »abgenommen«, er ist ganz klein geworden, geschrumpft, wie die Menschenköpfe, die von den Indianern präpariert und getrocknet werden. Sitzt über Manuskripte gebeugt und zensiert wie früher. Die russische Zensurbehörde wird von einem ehemaligen Pester Fagottisten namens G. geleitet; diese Person war einstmals von der berühmten Schauspielerin Franciska Gaál in einem Wutanfall verprügelt worden; sie lief während der Probe zu ihm in den Orchestergraben und hat das Fagott auf dem Kopf des Musikers zerschmettert. Jetzt ist dieser Mensch der oberste Zensor des geistigen Lebens in Ungarn. Letzten Sonntag strich er mein Gedicht »Grabinschrift« , weil es »von der Vergangenheit« handle und keine »positive« Aussage besitze. Alles ist exakt so geblieben, wie es vor einem, vor zwei Jahren war.
Vor dem Amtssitz des Ministerpräsidenten steht ein Auto mit ungarischem Nummernschild. Dieses Auto betrachten wir stolz durch das Fenster von T.s Büro. Sieh mal an, wir haben es doch schon zu etwas gebracht: Der ungarische Ministerpräsident hat einen Wagen! Die Ziegenhirten in Tirana und Cetinje haben wohl ähnlich empfunden, als Zogus oder Nikitas Auto vorfuhr.
Aus dem Fenster ist auch die ins Wasser gestürzte Kettenbrücke zu sehen, die Ruinen des alten Amtssitzes des Ministerpräsidenten und das, was von der Burg stehen geblieben ist … Der Wind lässt aufgewirbelten Staub und Müll über der Donau tanzen.
Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere: Gegen Abend bringt mich eine Zille von Pest nach Buda. Ich fahre mit der Straßenbahn nach Hause, die Wagen sind sauber, sie verkehren vom Südbahnhof schon bis nach Óbuda. In meiner Wohnung in der Zárdastraße bade ich, dann koche ich mir auf dem Elektroherd ein Abendessen, in meinem Zimmer knipse ich das Licht an, schalte das Radio ein, und über die Lautsprecher des Radios höre ich bis Mitternacht Schallplattenmusik von Händel und César Franck. All das habe ich einigen Tausenden ungarischen Arbeitern zu verdanken, die das Wunder vollbrachten, dass man drei Monate nach der Belagerung in Buda wieder mit der Straßenbahn fahren kann, es in einer Budaer Wohnung im Badezimmer Wasser gibt, das Licht brennt und das Radio funktioniert. Ich empfinde aufrichtige Hochachtung, weil ich weiß, unter welchen Umständen sie dieses einfache Wunder vollbracht haben: ohne Lohn, unter unmöglichen Arbeits- und Lebensbedingungen, in permanentem Elend. Das ist wahrlich eine Heldentat. In dieser verdorbenen, habgierigen, ungebildeten und trägen Gesellschaft taugt nur die alte sozialdemokratische Industriearbeiterschaft etwas. Die anderen stehen dabei, während diese Menschen arbeiten.
Ich höre bei einer Sitzung des Künstlerischen Beirats zu. Man
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