Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

verstehen, warum alles in Richtung eines stillen oder gar nicht so stillen Bürgerkriegs abgleitet; und er spricht laut und fürchtet sich.
    Brieflich habe ich dem Ausschuss zur Vorbereitung der geplanten »Ungarisch-Tschechoslowakischen Gesellschaft«, für den ich als Vorsitzender vorgesehen war, abgesagt … Wenn die Ungarn von den Slowaken – die nicht weniger reaktionär-faschistisch als die Ungarn sind – mit Kainsmalen versehen und mit Deportation bedroht werden, gehe ich nicht nach Prag, um eine Kulturkomödie zu spielen.
    Der Staat raubt einem von einer Stunde zur anderen durch Erlass die Tausender. Vier solcher Papierfetzen habe ich in meiner Tasche behalten, jetzt bin ich der »Schwarze Peter«; ich und noch viele andere. Das war mein erster Verdienst seit einem Jahr. Alles entwickelt sich in Richtung Anarchie.
    Nur die Natur nicht. Die Weltkräfte halten auf diesem Planeten offensichtlich noch Ordnung. Sie nutzen das vorhandene Material, wandeln es rechtzeitig um, nichts wird verschwendet. Es gibt in der Welt der Pflanzen, Tiere, Insekten auch eine Entwicklung. Kann sein, dass auch der Mensch »fortschreitet« und »sich entwickelt«, doch diese Entwicklung erfolgt so langsam, dass nicht der Einzelne, sondern nur die Art sie spüren kann, nur die Art, im Laufe der Zeit. Der Mensch ist noch viel zu jung, um über diese Entwicklung etwas Genaueres zu wissen.
    Heute habe ich das erste Mal meine Hand »betrachtet«, vielleicht das erste Mal in meinem Leben. Eine alte Hand, sie ist sichtbar gealtert.
    Der kleine Junge lügt viel und schmeichelt viel. Er kennt die Kraft seines Charmes, die bestechende Macht seines Kleinseins und Kindseins, und nutzt sie auch kokett und selbstsüchtig aus. Das Mädchen ist auf den Ankömmling irrsinnig eifersüchtig, grün und blau vor Eifersucht. Es macht sie krank, ihr ist übel, und sie hustet.
    Dieser schreckliche Mensch in der Schnellbahn, der die Reisenden ungefragt und ungebeten unterhält, ein professioneller Spaßmacher, der zu allem – mit nasaler Stimme – eine treffende, spöttisch-spaßige Bemerkung macht. Später schämen sich auch jene schon, die zu Beginn lauthals über seine »Sprüche« lachten, abgewandt und mit rotem Kopf.
    Jede neue Nachricht zeugt davon, dass die Besatzer mit den Österreichern und den Deutschen freundlicher umgehen als mit uns. Ungarn wird unter der Besatzung völlig ausbluten; bald wird es hier eine industrielle Emigration geben statt der ehemaligen Agraremigration; die Arbeiter werden gezwungen sein, den weggeschleppten Maschinen nachzuwandern.
    In der Presse mutloses Räuspern über die »Rolle des Bürgertums«. Gewiss, die bürgerliche Intelligenz könnte eine große Rolle spielen, wenn es ein paar Tausend Menschen gäbe, die in ihrem Namen den Mund aufmachen und handeln würden. Auf der ganzen Welt aber ist es aus mit dem Wertpapiercoupons schnippelnden Bürgertum, dabei spielte doch das Städte bauende, Kultur schaffende, Europa tragende Bürgertum einstmals eine heldenhafte Rolle und täte das auch heute noch, wenn … Doch dieses Bürgertum will von seinen Wortführern auch heute nichts anderes hören als irgendwelche schmalzigen Blumenlieder mit Mandolinenklang über »bürgerliche Werte und Moral«, obwohl jetzt keine Troubadoure benötigt werden, sondern Savonarolas . Aber dieser bürgerliche Savonarola ist weit und breit nicht zu sehen.
    R. , der Arzt, meint, die sexuelle Lustlosigkeit sei heutzutage ein allgemeines Symptom. Bei jungen Frauen bleibt von heute auf morgen die Periode aus; Männer erwähnten in der Ordination ganz beiläufig, dass sie seit Monaten nicht an eine Frau gedacht hätten … Das ist irgendeine hormonale Störung. Die außergewöhnliche Gewichtsabnahme ist ebenfalls ein allgemeines Symptom; dieses Abmagern kann nicht nur mit der Ernährung erklärt werden. Der Körper reagiert auf alles, was geschehen ist und geschieht, das Gleichgewicht der Hormone ist gestört: Dieser Zustand ist wohl eine Art Alarmreflex.
    Und er ist nicht der schlechteste. Ich nehme ihn auch an mir wahr. Seit Monaten lebe ich in völliger sexueller Gleichgültigkeit. Und es handelt sich hier nicht um körperliche Hilflosigkeit, sondern um etwas anderes: völlige Lustlosigkeit, Wunschlosigkeit, Ruhe. Ich habe abgenommen, sehe aus wie ein Windhund, bin Haut und Knochen, wiege neunundsechzig Kilo; und ich fühle mich dabei nicht unwohl. Wahrscheinlich wissen wir noch nicht genau, was im vergangenen Jahr mit uns, mit unserem