Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
fordert dringend irgendeine Autorenliste, weil die Schriftsteller und die Künstler »Wiederaufbau-Darlehen« vom Staat bekommen können. Es geht um öffentliche Gelder, und deshalb fühle ich mich nicht berechtigt, solche Hilfe zu verteilen: Die Schriftsteller sollen um Unterstützung ansuchen, wenn sie wollen; ich kenne auch Schriftsteller, die lieber verhungern, als sich an den Futtertrog zu stellen, damit sie umsonst einen Teller Suppe bekommen. Das ist eine Sache, die die Schriftsteller und die Gesellschaft betrifft.
Der Redakteur eines ehemals eher pfeilkreuzlernahen Blattes, in volkstümlicher Aufmachung, sucht beim Beirat um die Anerkennung seines »Schriftstellerstatus« an, weil er günstig zu einem Baugrund kommen möchte … Was habe ich damit zu tun? Wo bin ich denn: auf dem Standesamt oder bei der Gewerbeaufsicht? Und was soll ich von Schriftstellern denken, die, egal bei welchem Amt, um die »Anerkennung ihres Schriftstellerstatus« ansuchen? Man kann sich hier nur abwenden von allem und jedem und so weit wie möglich fortgehen.
Aber all das hört keiner mehr, spürt keiner mehr, so alltäglich ist es schon … Sie sprechen auch davon, dass man mit den umliegenden, den Nachbarländern, kulturelle Freundschaftsgesellschaften gründen müsse, und ich werde ersucht, der »Ungarisch-Tschechoslowakischen Gesellschaft« vorzustehen. All das planen sie in einem Moment, da die Slowaken die ungarische Urbevölkerung als Minderheit dazu zwingen , Kainsmale zu tragen, und sie in Massen deportieren. Ich nehme den Vorsitz nicht an. Der Terror hat vom Faschismus alles gelernt; und am Ende hat keiner etwas gelernt.
Ich höre Musik, seit Monaten das erste Mal, alte Platten, La follia , vorgetragen von Yehudi Menuhin, Tschaikowskis Pathétique ; und seit Monaten fühle ich das erste Mal, was für ein Bettler ich geworden bin! Was für Sorgen mich quälen! In was für einer Welt, unter welchen Menschen ich lebe! Ohne Musik, ohne Gedichte, ohne die Worte wahrer Menschen … und in immer düstererem Zwielicht, auf einen immer schmutzigeren Abgrund zutaumelnd.
Zurück ins Dorf. Am Vormittag erscheint Maróti, der ortsansässige Spezialist für Jauchegruben: ein zerrupftes, sanftes Ungeheuer, mit einem Sprachfehler und wie der Zwerg in einem orientalischen Märchen. Jede Drecksarbeit im Dorf wird von ihm erledigt.
Brummelnd erzählt er, er fische jetzt Leichen aus der Donau. Jeden Tag trieben aus Richtung Wien drei, vier Leichen im Wasser daher. Die meisten von ihnen nackt, gefesselt und geknebelt. Heute in der Früh habe er eine Frau herausgeholt, der man die Hände an den Hals gebunden hatte. Die Leichen werden nicht begraben, man lässt sie jetzt weiter Richtung Budapest treiben, »weil die Gemeinde die Begräbniskosten unmöglich tragen könnte«.
Die Donau ist grau und ruhig. Mit den Wasserleichen beschäftigt sich keiner. Am Vortag habe ich vor der Pester Redoute inmitten einer Menge Leute auf das Boot gewartet, als eine dickbäuchige, aufgeblähte Leiche an uns vorbeitrieb. Die Leute schauten gleichgültig, eine junge Frau stand neben mir, sie puderte sich die Nase und verschwendete keinen Blick an den toten Körper.
Lektüre: Lajos Prohászka , Die Moral von heute . Ein Lehrer doziert aufgrund von Wissen, das er sich angelesen hat, über Moral und darüber, was in den letzten achtzig Jahren über Moral geschrieben worden ist. Ich empfehle dieses Buch pubertierenden Philosophen.
Temps retrouvé . Die Nachtszene, in der Herr Charlus im Hotel von Matrosen verprügelt wird und deutsche Flugzeuge über Paris herumschwirren. Eine der großartigsten Szenen der Weltliteratur, sie ist vollkommen und fehlerlos.
Proust hat recht: Frauen – die nicht nur aufgrund ihres körperlichen Habitus, sondern auch vom Gefühl her Frauen sind – mögen den verliebten Mann nicht.
Ich werde von einem jungen Politiker besucht. Er ist jetzt Parteiführer … Er bemüht sich, ein überlegener Staatsmann zu sein, doch man spürt an seinen forschen Worten, wie sehr ihm insgeheim die Zähne klappern. Er fängt an, die Verantwortung der Macht zu begreifen. Gestern hat er noch die kollektive Aussiedlung der deutschen Minderheit verlangt, heute muss er sehen, dass die Tschechen und Slowaken mit den Ungarn genauso umspringen. Langsam lernt er die ungarische Gesellschaft kennen, sieht, wie sich die ungarische Reaktion organisiert, sie ist mächtig und kann nicht einfach durch ein Machtwort »ausgerottet« werden … Er beginnt zu
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