Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Er ist vier Jahre alt, durchtrieben, stur, Bauer und Protestant; weiß schon sehr viel von Tieren, Feldfrüchten, über den Garten, über die Eigenheiten irdischer Dinge. Aber er weint jeden Tag Jászberény nach: Dort hat es alles gegeben, Pferde, Hunde, Hühner, Entenküken, Russen, sogar Juden. Alle meine Mühen sind umsonst, mit diesem reichen Erinnerungsschatz kann ich nicht konkurrieren.
Freud »verleugnet« Gott nicht: er ist IHM nur während seiner Experimente und Untersuchungen nicht begegnet, deshalb kann er über IHN nichts sagen. Er beschäftigt sich mit den religiösen Gefühlen, objektiv, und er glaubt, dieses »ozeanische« Gefühl sei nichts anderes als das Heimweh des auf der Erde allein gelassenen, den Gefahren ausgelieferten Menschen nach dem großen VATER . Wahrscheinlich steckt auch das in den religiösen Gefühlen … aber doch auch mehr, anderes, Gewissheit in ihnen: die Gewissheit, dass das Organische und Anorganische sowie die Ordnung der metaphysischen Welt von Sinn und Absicht durchdrungen sind und dass diesen Sinn JEMAND repräsentiert. Er wird von JEMANDEM vielleicht nicht »verkörpert«: Das weiß ich nicht … jedoch vertreten, das heißt, JEMAND trägt ihn in sich, vielleicht wie eine mathematische WAHRHEIT die Gesetze der Materie in sich trägt.
Parallel zu Freud lese ich Verzárs Buch über Leben, Tod und Krankheit. Der Physiologe wagt die Frage, ob es Gott gibt, erst gar nicht zu stellen – er gibt sich mit einer bescheideneren, aber für ihn schicksalsvollen und entscheidenden Frage zufrieden: Was ist das Leben? Die Wissenschaft konnte die Phänomene des Lebens bisher nur nachahmen. Experimente mit Schellack und Chloroformtropfen, die Versuche zum Nachbau von Zellen … all das sind nur Kopien, etwas Ähnliches, manchmal zum Verwechseln Ähnliches; aber nicht das Leben. Was setzt das Leben in der Materie in Gang? Wir wissen es nicht. Gott weiß es.
Freud, der den Menschen für so endgültig determiniert hält, dass er nicht einmal gewillt ist, das ICH anders zu sehen als ein Selbstbewusstsein, das zur Welt hin von einer dünnen, zerbrechlichen, schaufensterglasähnlichen Fassade begrenzt ist und nach innen noch viel unbegrenzter, verwaschener … auch Freud muss anerkennen, dass der Mensch eine Art persönlichen Freiheitsdrang hat, den er nicht geneigt ist irgendeinem »Kulturzweck« unterzuordnen. Weder der STAAT noch die GESELLSCHAFT kann dieser endgültige Zweck sein, für den der Mensch seinen Freiheitsdrang berechtigterweise eingeschränkt sieht … Es scheint nicht, dass man den Menschen durch irgendwelche Beeinflussung dazu bringen kann, seine Natur in die eines Termiten umzuwandeln, er wird wohl immer seinen Anspruch auf individuelle Freiheit gegen den Willen der Masse verteidigen. Eine harte Wahrheit, doch nicht unbedingt die endgültige Wahrheit. Durch die unselektierte Reproduktion, die krankhafte Vermehrung der Menschenmassen degeneriert auch der tiefe Freiheitsdrang in der Seele des Individuums immer mehr. Eine Termitenwelt in der menschlichen Gesellschaft ist heute nicht mehr ganz so unvorstellbar wie noch vor fünfzig Jahren.
Ich spreche mit Rückkehrern aus den Todeslagern Mauthausen, Auschwitz; und dann mit Ärzten, die sie untersucht haben, den Heimgekehrten Erste Hilfe leisteten; ich unterhalte mich mit sechzehnjährigen Mädchen, die aussehen wie sechzig; und dann mit Christen, ja auch mit Juden, die indigniert meinen, dass sie »von der Judenfrage genug« haben, »reden wir über etwas anderes …«. Über anderes? Wirklich? Einer der größten Massenmorde des Jahrhunderts wurde vor unseren Augen verübt; die ihm zufällig entkamen, liegen noch mit offenen Wunden auf dem Stroh in Viehwaggons, sie starren uns, um Jahrzehnte gealtert, mit glasigen Augen an, ihr ganzes Leben ist zerstört, Familie, Zuhause, Beruf … und wir sollen über etwas anderes reden? Wirklich? Worüber denn? Darüber, dass die Juden gewiss keine Engel sind und es unter ihnen genügend Schwarzhändler und Goldschieber gibt? Natürlich gibt es die. Und ist das denn gut so? Nein, überhaupt nicht; aber darum geht es jetzt nicht, sondern um die Heimgekehrten und jene, die nicht nach Hause kamen, um Hunderttausende Menschen, die gierig, habgierig und gnadenlos ausgeraubt und ermordet wurden … In gewissen Kreisen gehört es sich aber nicht, darüber zu sprechen. »Ich bitte Sie«, meint man da, »gibt es denn nichts anderes als diese Judenfrage?« … Und genau darum geht es, dass es
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