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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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auch vieles andere gibt und geben könnte, allein diese Judenfrage möchten gewisse Menschen aus unserer Welt ausblenden, ja ausmerzen; sie drehen den Kopf weg, schauen nicht hin. Für mich gibt es keine separate Judenfrage mehr; diese Frage muss von jedem ein für allemal entschieden werden. Es geht um Menschen, die von Müttern geboren wurden, die, wie alle von Müttern geborenen Menschen, Fehler haben, wenn ihr wollt: auch Sünden – doch die »Judenfrage« ist kein separates Einzelproblem, sondern eine Frage des Humanums ; wie naserümpfend und verächtlich ein bestimmter Menschenschlag dieses Wort auch aufnehmen mag … Wenn sich in einer Gesellschaft die Diebe, Räuber und Mörder vermehren, so müssen drakonische Gesetze gemacht werden, die Diebe, Räuber und Mörder bestrafen, und wenn es unter den Verbrechern mehr Juden als Christen gibt, dann werden mehr Juden sühnen; das ist der Sinn alles dessen, was man darüber sagen kann. Das aber, gerade das will eine bestimmte Gesellschaftsschicht, die schuldbewusst ist und ihr Schulbewusstsein mit neuen Anschuldigungen übertönen möchte, nicht hören; dieses »reden wir über was anderes« findet immer weitere Verbreitung. Sie haben recht, reden wir über etwas anderes, was wirklich wichtiger ist als die Abrechung und die Strafe: Reden wir stur und mit allen Konsequenzen darüber, wie man eine Wiederholung ähnlicher Katastrophen verhindern kann? Vorbeugen und, wenn möglich, für immer unterbinden, dass dieser niederträchtigste aller Massenmorde der Geschichte von einem anderen Volk, einer anderen Rasse oder Gesellschaft wiederholt wird. Diese Prophylaxe ist das wirkliche Problem, und da hat keiner, der nicht Komplize eines ähnlichen Verbrechens sein will, das Recht zu schweigen.
    Und dann betritt der »kleine Mann« die Bühne – der kleine Gemeindesekretär, der kleine Bezirksrichter, der kleine Ministerialrat, der kleine Staatssekretär, der jetzt vor dem Rechtfertigungsausschuss kleinlaut und verstört meint: »Ich bitte Sie, ich bin auch nach dem 19. März 1944 an meinem Platz geblieben, weil die Familie … weil die Pension … habe aber nichts getan, habe meine Arbeit gemacht … nur die Anordnungen ausgeführt. Ich wusste, dass diese Anordnungen ungesetzlich und unmenschlich waren, habe sie auch nicht gutgeheißen, bitte fragen Sie diesen und jenen, im Vertrauen hab ich ihm erzählt … aber die Familie, die Pension …« Und er wischt sich den Schweiß von der Stirn.
    Sie sollen alle angehört werden. Wer nach dem 19. März 1944 an seinem Platz blieb und die Anordnungen einer illegitimen Regierung zum Massenmord ausführte, kann sich nicht auf Familie und Pension berufen. Irgendetwas muss jeder verantworten. Es ist sicher, dass es welche gegeben hat, gar nicht wenige, die an ihren Plätzen blieben, um helfen zu können; ich wiederhole, gar nicht wenige, wenn auch – leider – nicht die Mehrheit. Was soll ich über den Obergespan in Oberungarn denken, der an seinem Platz blieb, als man aus seiner Stadt Zehntausende von ausgewiesenen ungarischen Staatsbürgern nach Auschwitz in die Gaskammern trieb; und zu seiner Verteidigung kann er bloß sagen, er hätte »nicht geholfen«, die Deportationen wären nicht von ihm angeordnet und auch nicht von ihm organisiert worden? Wenn er sie nicht verhindern konnte, warum ist er dann nicht zurückgetreten? … So viel hätte doch wohl jeder auf sich nehmen können. Und wenn er antwortet: »Ich bin nicht zurückgetreten, um diesem oder jenem helfen zu können, wenn ich schon nicht allen helfen konnte« – muss man sich seine Geschichte aufmerksam anhören. Aber dann soll er Rechenschaft ablegen. Von Fall zu Fall und von Person zu Person, alle sollen genau berichten: der Gemeindesekretär, der Bezirksrichter, der Obergespan, der Staatssekretär: Wann, was, wen haben sie dadurch gerettet, dadurch, dass sie an ihrem Platz geblieben sind? Man muss nicht übertrieben streng urteilen – selbst das Leben eines einzigen Menschen kann schon eine Entschuldigung sein. Doch diesen einen Menschen sollen sie benennen, ihn vorstellen und es beweisen. Gerade deshalb und damit diese offene Wunde endlich heilen kann und nicht in den Seelen weiterhin brennt und schwärt, gerade deshalb – was wir uns alle wünschen, der eine aus diesem, der andere aus jenem Grunde –, damit es wirklich nie mehr eine Judenfrage gibt und wir endlich »über was anderes« reden können.
    Freud glaubt nicht daran, dass der Aggressionstrieb des

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