Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
Körper, mit unserer Seele geschehen ist und später noch, während der Belagerung … Wie das Land lebt auch das Individuum von seinen »Reserven«. Diese Reserven, die Muskeln, die Nerven, die Hormone, die Seele, braucht es jetzt langsam auf.
    Man kann nicht länger schweigen; man muss das Wort ergreifen und gerade in den Zeitungen des Bürgertums, man muss zu ihnen sprechen, zur reaktionären ungarischen Mittelschicht. Ich setze keine große Hoffnung in diesen Versuch; es geht hier um Lebensinteressen, und die Reaktion gibt für kein noch so schönes Wort ihre Lebensinteressen auf … Dennoch muss das Wort ergriffen, muss in ihrer Sprache zu ihnen gesprochen werden, man muss erklären, was geschah und warum es geschah, und ihnen sagen, nicht die Demokratie ist schuld, dass alles so qualvoll und armselig wurde, wie es jetzt ist, nur sie können etwas dafür: gerade die Bürger, sie, die dieses Unglück aus kurzsichtigem und gewissenlosem Interesse heraufbeschworen haben. Ich weiß, dass dieser Versuch nicht ungefährlich und ziemlich aussichtslos ist. Man wird mich wohl beschuldigen, der »ungetreue Sohn des Bürgerstands« zu sein – diese Anschuldigung muss ich hinnehmen; ich bin es wirklich und will jetzt auch nichts anderes mehr sein. Wer soll sich zu Wort melden, wenn nicht ich, der Bürger? Ich kenne ihn, den ungarischen Bürgerstand, so gut, wie nur wenige ihn kennen … kaum jemand sonst verfügt über mehr Sachkenntnis. Deshalb darf ich nicht schweigen. Vielleicht bewegt sich Ungarn in Richtung Bürgerkrieg, und der kann durch die Zwischenrufe eines Schriftstellers sicher nicht verhindert werden; aber niemand soll den ungarischen Geist noch einmal des Negativismus zeihen. Unser Verderben können wir nicht verhindern, doch keiner soll noch einmal sagen können, wir hätten geschwiegen, nicht rechtzeitig das Wort ergriffen.
    Und ich weiß, ich bin ein Bürger, also anarchisch; das kann nur der wirkliche Bürger verstehen, jener, der die Städte Europas gebaut, in den von Palladio geschaffenen Palazzi diskutiert, Bach und Mozart gehört hat; und dieser Bürger baute dennoch; wusste, dass diese strenge Ordnung, in die er alles einzufügen versuchte, was in der Seele des schöpferischen Menschen ewige Anarchie ist – die Rechtsordnung, die moralische Ordnung –, all das nur ein zerbrechlicher Reifen ist, weil in seiner Seele stärkere und gefährlichere Kräfte schlummern und unter Spannung stehen. Wie Neapel wurde auch das bürgerliche Weltbild am Fuße eines Vulkans erbaut … und dieser Vulkan steckt in uns, in der bürgerlichen Seele. Davon weiß der Prolet – der niemals Bürger war und sein wird und keine Ahnung davon hat, was für ein Unterfangen es war, Europa zu erbauen mit seiner Kultur, seinen Kathedralen, seiner Rechtsordnung, Gewürze aus Cipango und Westindien zu holen und, von einer anarchischen Schaffenskraft getrieben, die Welt auch mit Amerika zu beschenken –, von alledem, sage ich, weiß der Prolet nichts. Aber Thomas Mann weiß davon, wenn er sagt: Musik ist Zerfall! – und ich, der ich bemüht bin, mit ganzer Kraft das erschütterte bürgerliche Lebensbewusstsein in die Disziplin eines höheren Stunden- und Arbeitsplans zu zwingen, spüre diese rätselhafte Bedrohung mit meinem ganzen Körper … Musik ist Zerfall. Und in letzter Zeit kann ich nur noch voller Angst Musik hören; wie jemand, der einer Urteilsverkündung lauscht.
    Und nicht mehr nur meine Seele, auch mein Körper ist voller Zorn. Ich bin mit Zorn erfüllt wie mit irgendeinem Gift, einem Toxin. Meine Haut, meine Drüsen sind zornig. Was soll ich mit der ungarischen Gesellschaft tun, wie soll ich mich ihr annähern, was kann ich ihr sagen? Ich kann nichts tun. Nur böse sein, und ich sehe, wie das Gewebe meines Körpers in diesem zornigen inneren Feuer raucht und verbrennt.
    Und ich beruhige mich mit Mark Aurel, mit Seneca, den Stoikern … aber der Versuch ist vergeblich. Der Mensch ist wirklich ein hoffnungsloser Fall und ist es stets gewesen. Trotzdem tut diese Tatsache weh.
    Jetzt, da ich einige Einträge aus diesem Tagebuch in einer Zeitung veröffentlicht habe, muss ich auf jede Zeile achten, die ich in Zukunft in dieses Tagebuch schreibe: Ob nicht schon in Richtung »Publikum« schielt, was ich notiere, ob der Tonfall dessen, was ich zu sagen habe, nicht ein anderer ist, ob er wirklich »aufrichtig« bleibt, auf schicksalshafte Weise vertraulich … oder ich schon eine Rolle spiele und kokettiere?
    Davor muss ich

Weitere Kostenlose Bücher