Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
mich sehr in acht nehmen, und das ist nicht einfach. Und gewiss ist es nicht gleichgültig, ob manche Zweifel, die ich in mein Tagebuch murmelte, in die Öffentlichkeit gelangen; im vergangenen Jahr hat es eine Zeit gegeben, in der ich das Gefühl hatte, ich würde ersticken, wenn ich nicht durch das Ventil seiner Seiten atmen könnte. Es ist nicht gleichgültig, ob ich diese Zeilen an Menschen adressiere oder nicht, aber es ist vielleicht wichtiger, dass ich auch weiterhin jede Zeile so schreibe, als würde ich nur mit mir selbst sprechen. Ich kann die Menschen nicht erziehen, ich kann nur mich selbst erziehen.
Ich bin in Buda unterwegs, zwischen Ruinen und Leichen, und ständig kommt mir eine Gedichtzeile von Babits in den Sinn: der Refrain, der die Strophen des Gedichts »Es gibt in Buda ein altes Hotel« begleitet. Im alten Budaer Hotel, in dessen Zimmern Paare und Durchreisende leben, und jenseits seiner Wände verfault lautlos ein Toter. Wohin ich in Buda auch trete, geschieht das jetzt: In den Ruinen leben Menschen, und unter den Ruinen verfaulen lautlos die Toten.
Ich muss Prohászkas Buch um Vergebung bitten; das ist eine Sache der Ehre; die Anfangskapitel sind kompilatorisch, doch nach den Abschnitten zur Geschichte der Moral beginnt das Buch zu knistern und zu lodern, ist von echtem Zorn und von Leidenschaft erfüllt. Über die »Moral des Hasses«, die Hasspsychose, die auf den Ruinen der liberal-humanistischen Moral des 19. Jahrhunderts aufgebaut und durch die rassische Formel verstärkt wurde, schreibt er wahrhaft feurige Seiten. Und es stimmt, was er als die Krankheit der Sexualmoral unserer Zeit sieht: Die mangelnde Befriedigung verwandelt sich in Herrschaftsgelüste. Ein beseeltes Buch, es steckt Begeisterung darin; über die Begeisterung sagte Aristoteles: Es kann nur der andere begeistern, der selbst begeistert ist. Die »gleichgültigen, großen Gehirne« haben den Menschen noch nie wirklich zu einem Mehr verholfen. Man muss geduldig lesen, wie auch dieses Beispiel zeigt: mit großherziger Geduld.
Ich glaube an keinerlei eigene »bürgerliche Lösung«. Nur alle gemeinsam können zur Ruhe kommen, Intelligenz, Bauernschaft und Arbeiterschaft können nur gemeinsam diesen tragischen Übergang »meistern«, wenn es denn überhaupt irgendeine Lösung gibt … Das Bürgertum schielt in Richtung Reaktion, es erhofft sich die Hilfe immer noch von dort; die Russen werden eines Tages abziehen, und dann wird das »Na wehe!« beginnen, glauben sie. Es wird wahrscheinlich anders kommen.
Aber bis dahin: Auch das Bürgertum möchte wissen, welches Schicksal es erwartet. Und nicht nur das Schicksal der Bürgerschicht ist von Belang, auch jenes der Nation, des Staates, jenes der historischen und geografischen Heimat. Was man mit ihr vor hat? Diese Zweifel und Sorgen sind berechtigt. Es gibt keine Staatsform, es gibt keine endgültigen Grenzen, im Ringen der Parteien wird die zentrale Macht vollkommen atomisiert, die gesellschaftliche Lage ist bestimmt von Klassenargwohn und hat sich noch nicht stabilisiert … Man muss sich nicht wundern, wenn die Intelligenz misstrauisch ist und gleichzeitig in die Vergangenheit und in die Zukunft schielt.
Die Menschenbrut kann ihrem Leben ohne eine Art Pathos kein Feuer geben. Wenn du ihr das Pathos der Nation und der Rasse nimmst, musst du ihr das Pathos der Klasse oder etwas anderes dafür geben. Sie erträgt sonst das Leben nicht.
In der Nacht vor Peter und Paul, der ganze Landstrich ist von dreiwöchiger trockener Hitze versengt, regnet es ausgiebig. Im Schlaf spürt mein Körper den Regen, ich wache auf, recke mich glücklich wie draußen vor dem Fenster in der finsteren Nacht die Bäume, die Beete und Getreidefelder. Hier herrscht Ordnung, beruhige dich, schlafe; alles geschieht zu seiner Zeit.
Dem kleinen Jungen habe ich ein Schmetterlingsnetz mitgebracht, und jetzt rennt er im Junisonnenschein glücklich die Gartenwege entlang: Er fängt Schmetterlinge, dann entlässt er die flatternden, flüchtigen Sommervögelein wieder in die Freiheit. Der Garten strahlt in reifem, glänzendem Licht, und das Kind, die Schmetterlinge, das schwebende rosarote Schmetterlingsnetz zwischen den Blumen, den grünen Tomatenbeeten und gelb blühenden Kürbissen: All das ist eine tiefe Einheit, Spiel und Lichtblitze, Wirklichkeit und Überfluss.
Manchmal blicke ich vom Buch auf – ich lese Freuds Unbehagen in der Kultur – und beobachte das spielende Kind mit dem Schmetterlingsnetz.
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