Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
Menschen durch irgendeine Gesellschaftsordnung, irgendeinen Erziehungsversuch reduziert oder neutralisiert werden kann. Der Kommunismus nimmt den Menschen umsonst den Privatbesitz weg, der den Habenichts zur Aggression reizt: Der Mensch bleibt auch ohne Privatbesitz aggressiv. Irgendetwas kann man immer hassen und jemandem missgönnen: dass der andere klar denken kann, dass seine Beine nicht krumm sind oder eine Ölquelle, die ein Individuum nicht braucht, die »Gemeinschaft«, zu der das Individuum mit all seinen Interessen gehört, aber schon … Der Aggressionstrieb wird mit dem Anwachsen der Massen immer universaler und inniger.
    An seinem Lebensabend glaubt er aber daran, dass Eros schließlich die Möglichkeit zu irgendeiner Versöhnung findet und die Angst, die auch die Bildung in den schuldbewussten Seelen der zur Aggressivität neigenden Massen nicht auflösen kann, mildert, sie sublimiert, sie zähmt und in den Dienst des Lebens stellt … Diese mutlose Prophezeiung ist rührend. Solcherlei sagt ein alter Weiser, der vielleicht gar nicht unbedingt an das glaubt, was er sagt, aber nicht sterben will, ohne der hoffnungslosen Menschheit irgendeinen schwachen Trost und fahlen Hoffnungsschimmer zu hinterlassen.
    »Was ist das Leben?«, fragt Verzár. Nicht die Bewegung, weil sich auch tote Materie bewegen kann. Er gibt eine mutlose Antwort: »Leben ist dort, wo es Stoffwechsel gibt.«
    Ja, organisches Leben gibt es nur dort; doch es gibt auch ein andersartiges Leben, das nicht organisch ist und über keinen Stoffwechsel verfügt. Es gibt auch mathematisches Leben, es ist mindestens so flexibel, lebendig und weltbewegend wie das organische Leben. Und zumindest so Leben … aber können wir erwarten, dass der Mensch, im Gefängnis seines Körpers, dieses anorganische Leben als wirkliches akzeptiert?
    Ich habe die Typhusimpfungen hinter mir. Wenn ich mich nun dazu entschließen würde, mich auch gegen Flecktyphus impfen zu lassen, könnte ich die Beleidigten wieder um drei Wochen verschieben. Der Gedanke ist verführerisch.
    Denn die Beleidigten muss ich schreiben – fast drei Bände Arbeit warten noch auf mich. Und ich fürchte mich vor dieser Arbeit. Als ich damit begann, war alles spontan; dann hat die Zeit diese Arbeit gestoppt; und jetzt, während des langen Schweigens und der erzwungenen Wartezeit, ist sie zur »Aufgabe« herangewachsen, ist sie zu etwas Künstlichem und Formellem geworden, zu einer Art »Lebenswerk« … und diese Perspektive erfüllt mich mit Misstrauen. Ein Mensch darf das »Hauptwerk seines Lebens« nicht mit Absicht schreiben. Er kann es vielleicht auch in vier Bänden schreiben, nebenher, zu seinem eigenen Vergnügen und seiner eigenen Überraschung. Nur nicht so: Also jetzt setz ich mich hin, nehme mir ein oder zehn Jahre Zeit und schreibe mein Lebenswerk … Da ist schon etwas verdächtig.
    Aber es gibt keine Regeln. Vielleicht geht es auch so.
    Herr Ch. , Mitglied der englischen Mission, möchte über gemeinsame Bekannte die Meinung von einigen Ungarn erfahren: »Wie war die ungarische Propaganda des englischen Rundfunks im Krieg?« Die Frage ist nicht nur rhetorisch. In diesen Jahren erwarteten wir uns alle von der Zauberkiste eine Antwort auf unsere Zweifel, und wenn in den Abendstunden das bekannt-geheime Beethoven’sche Ta-ta-ta-taa erklang, lechzten wir in verdunkelten Zimmern nach der Antwort auf unsere große Frage: Wie sieht unser Schicksal aus? Manchmal wurden über die Verhältnisse in Ungarn auch leicht überprüfbare Unwahrheiten berichtet; das schadete der allgemeinen Glaubwürdigkeit der Nachrichtensendungen. Den Wert dieser Vorträge darf man nicht überschätzen; ich glaube nicht, dass selbst die geschickteste, wirksamste Propaganda das Leben einer Nation in ihren kritischen Stunden entscheidend beeinflussen kann. Nur eines ist gewiss: Das englische Radio ermutigte uns ständig, jedes Risiko einzugehen und mit den Deutschen zu brechen, sagte aber nie, was mit uns geschehen würde, wenn wir dieses Risiko eingingen. Wir wussten: Wenn wir mit den Deutschen brechen, opfern wir nahezu eine Million einheimische und zu uns geflüchtete Juden, Polen, Franzosen und all die politischen Flüchtlinge; und schon das ist kein geringer Preis. Aber die Engländer hätten entgegnen können, dass man einen Weltkrieg nicht nach karitativen Gesichtspunkten führen kann; ihnen täten die ungarischen Juden und die politischen Flüchtlinge auch leid, aber die Ungarn können sich auch um

Weitere Kostenlose Bücher