Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
diesen Preis nicht vor der Verantwortung drücken, Stellung zu beziehen. Das ist eine harte Antwort, doch man kann sie beherzigen. Wir wussten: Wenn wir mit den Deutschen brechen, hetzen sie die Slowaken, die Kroaten, die Rumänen auf uns, und Oberungarn, Siebenbürgen, die Batschka und vielleicht ganz Ungarn würde von den kleinen Nachbarvölkern besetzt; und nachdem man in Trianon zwei Drittel des Landes unter den Nachbarn aufgeteilt hatte, konnte nach Trianon keine ungarische Regierung die Möglichkeit zur Revision dieses Vertrags ablehnen, nicht, wenn diese Möglichkeit von den Deutschen geboten wurde, und nicht einmal dann, wenn die Regierung in dem Augenblick sozialistisch oder kommunistisch gewesen wäre … Aber die Engländer haben wieder nur erwidern können: Die englische Nation setze die Interessen eines Weltreichs aufs Spiel und fordere auch von den Ungarn, alles zu riskieren. Auch das können wir noch verstehen. Nicht verstanden haben wir, dass sie, obwohl sie bedingungsloses Risiko verlangten, uns nicht sagten, was wir, zu diesem fatalen Preis, retten können? Wie würde das Land wohl aussehen, das die Sieger bereit waren anzuerkennen? Was forderten sie noch von uns, wenn wir dieses Risiko eingingen? Darüber, nur darüber sprach die geheimnisvolle schwarze Kiste in den aufregenden Minuten, als wir ihrer Stimme lauschten, nicht. Von keinem Volk kann man verlangen, alles aufs Spiel zu setzen und alles zu opfern, ohne ihm gleichzeitig irgendein greifbares Schicksal oder eine Zukunft zu versprechen. Hier begann diese Propaganda zu schwächeln.
Seit zwei Tagen höre ich überall Musik, wenn ich wach liege, auf der Straße, wenn ich im Boot die Donau überquere und mit Menschen spreche … Ein paar Takte irgendeiner alten Musik, ich weiß nicht, wer sie komponierte. Der Sommer voller Dunst, voll bösartiger, hinterhältiger Hitze. Und diese unentwegte Musik, inmitten der Ruinen.
Die Zeit beantwortet stets, worauf der Augenblick keine Antworten hat. Du musst nichts weiter tun als die Frage aus dem Tiegel des Augenblicks heben, sie in das Reagenzglas der Zeit stecken und sie dann geduldig beobachten. Das Reagenzglas der Zeit zeigt schließlich immer die Erklärung … Es ist eine Frage der Geduld, Aufmerksamkeit und natürlich des Wissens und der Erfahrung, ob du diese unvergängliche Antwort in ihrem wahren Sinn begreifen kannst.
Jeder weist sich aus. Menschen zeigen ihre von Gummiknüppeln schwielig geschlagenen Handflächen wie einen Lichtbildausweis: ohne Aufforderung, mit automatenhafter Bereitwilligkeit.
Was für eine wichtige Beschäftigung das Spiel ist! Huizinga hat recht: Tief auf dem Grund jeder menschlichen Unternehmung wieselt unruhig der Spieltrieb hin und her. Spielen, todernst, schicksalsschwer und gedankenversunken wie ein vierjähriger Junge im Sand, der etwas Unsichtbares und Großartiges baut wie Michelangelo, Bach … mit der gleichen Andacht und Konzentration.
Das Überraschende ist niemals interessant. Wirklich interessant ist nur, was man oft und eindringlich gehört hat.
Von Buda setze ich immer noch mit dem Boot nach Pest über, und ich habe schon Übung beim Einsteigen, ich fühle mich in der Mitte des Stroms wie zu Hause; langsam werden wir zu Wassermenschen, wir aus Buda wie die Leute in Venedig; wir schreiten in Hausschuhen übers Wasser, leger.
Bis zum 19. März 1944 haben das christlich gesinnte, liberale Bürgertum und die Juden die Zeitung Magyar Nemzet gelesen, und jeden Morgen erfuhren sie aus den Spalten der Zeitung zu ihrer Beruhigung, dass die Deutschen den Krieg schon verloren und die Leser überhaupt nichts zu tun und zu schaffen hätten, als ruhig abzuwarten, bis die Engländer in Budapest einzögen und die Positionen, die sich die terroristische Rechte angeeignet hat, zurückgegeben würden. Das ist alles nicht ganz so eingetroffen; die Deutschen haben wirklich den Krieg verloren, aber das liberale Bürgertum, die Juden und alle Ungarn mussten zuvor noch einen horrenden Preis zahlen.
Jetzt, da die Deutschen den Krieg verloren haben und statt der Engländer die Russen in Budapest eingezogen sind, erscheint auch Magyar Nemzet und wird wieder von den Bürgern gelesen; jetzt aber auch von jener Bürgerschicht, die früher das Új Magyarság verschlungen hat – diese Schicht will jetzt aus Magyar Nemzet erfahren, was vor einem Jahr die Juden und die liberalen, christlichen Bürger aus dieser Zeitung zu erfahren hofften: dass die Russen den Frieden verlieren, die
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