Urangst
es doch sein, dass er seinen Geist unwissentlich hatte darben lassen.
Er fuhr zum Flughafen zurück, wo ihn der Lear erwartete.
Auf Billys Bitte hin brachte ihm der Steward mit dem britischen Akzent einen Chivas Regal auf zerstoßenem Eis.
Das Mittagessen, das hoch über der Erde serviert wurde, bestand aus kleingeschnittenem Salat mit Poulardenbruststreifen und Wachteleiern.
Billy nippte am Scotch, aß und grübelte. Er nahm keine der Zeitschriften in die Hand. Einmal ging er ins Bad, warf aber keinen Blick auf sein Spiegelbild. Es bereitete ihm keine Sorgen, dass der Hund seine Witterung durch den offenen Spalt über dem Fenster des Geländewagens aufgenommen hatte. Er weinte nicht. Keine einzige Träne. Seine Unpässlichkeit war nichts weiter als eine Unebenheit auf der Straße. Kein Grund zur Sorge. Eine Unebenheit. Im Straßenbelag. Hurra!
55
Während sie auf die Stadt zufuhren, in der nach eigenen Angaben so viele Menschen ihr Herz verloren hatten, schüttete Amy Brian ihr Herz aus, um eine Last abzuwerfen.
In ihrem letzten Schuljahr in der Mater Misericordiae bekam Amy ein Stipendium von einer angesehenen Universität. Da es aber nur ein Teilstipendium war, musste sie Geld dazuverdienen.
Während ihrer Highschoolzeit hatte sie zwei Jahre lang nebenher gekellnert. Der Job hatte ihr Spaß gemacht und sie hatte gute Trinkgelder kassiert.
Als sie die Universität besuchte, fand sie einen Job in einem Steakhouse der gehobenen Preisklasse. Dort lernte sie Michael Cogland kennen, einen Stammkunden, der sechsundzwanzig war, acht Jahre älter als sie.
Er war charmant und hatte eine starke Persönlichkeit, aber als er mit ihr ausgehen wollte, nahm sie die Einladung nicht gleich an. Er erwies sich als unermüdlich.
Amy glaubte zu wissen, was sie wollte: eine erstklassige Ausbildung mit abschließender Promotion, eine Laufbahn als Dozentin, ein ruhiges Leben in akademischen Kreisen mit vielen Freunden und eine Gelegenheit, das Leben von Studenten zu bereichern, wie die Schwestern der Mater Misericordiae ihr Leben bereichert hatten.
Michael Cogland bewies nicht nur Ausdauer, bis er sie hingerissen und ihr Herz erobert hatte, sondern er riss sie
auch in die Welt der Reichen hinein, die einen unwiderstehlichen Reiz auf sie ausübte.
Da sie im Alter von zwei Jahren mit nichts als ihren Kleidern am Leib ausgesetzt worden war, später die Harkinsons und das solide Leben im Mittelstand, das sie ihr geboten hätten, verloren hatte und in einem Waisenhaus aufgewachsen war, hatte sie von klein auf nach Sicherheit gelechzt. Dieser Durst war selbst durch die Liebe, mit der sie die Schwestern überschüttet hatten, nicht gestillt worden, aber das wurde ihr erst später klar. Achtzehn Jahre lang war sie mit nicht mehr als ein paar Dollar im Portemonnaie zurechtgekommen und hatte geglaubt, die Armut – und die Sorglosigkeit, mit der sie in Armut lebte – hätte sie gegen ein ungesundes Verlangen nach Geld immun gemacht.
Doch Cogland hatte ihre unterbewusste Sehnsucht nach Sicherheit klar erkannt und subtil und gerissen eine Vision von einer behaglichen Zukunft für sie entworfen, der sie nicht widerstehen konnte.
Da sie eine sittsame katholische Klosterschülerin war, behandelte er sie außerdem mit Respekt und zögerte eine körperliche Beziehung bis nach ihrer Eheschließung hinaus. Er wusste ganz genau, wie er sie manipulieren konnte.
Nach zwei Monaten waren sie verlobt, und als sie sich vier Monate kannten, heirateten sie. Sie ging von der Universität ab und wandte sich einem Leben in Muße zu.
Er wollte eine Familie haben. Bald darauf war sie schwanger. Aber es würde Kindermädchen und Haushaltshilfen geben.
Erst wesentlich später erfuhr sie, dass Michael zwar an den Maßstäben der meisten Menschen gemessen ein reicher Mann war, der größte Teil seines Reichtums jedoch treuhänderisch verwaltet wurde. Durch die Klauseln im
Testament seines Großvaters war festgelegt, dass dieses Geld nur unter zwei Bedingungen an ihn übergehen würden: Vor seinem dreißigsten Geburtstag musste er ein Mädchen heiraten, das die Zustimmung seiner Eltern fand, und seine Frau musste ihm ein Kind gebären.
Anscheinend hatte sein Großvater, wenn nicht auch seine Eltern, schon in seiner Kindheit einen Hang zu negativen Einstellungen und unbesonnenen Handlungen an ihm festgestellt. Da die Coglands eine gläubige Familie waren, in der es bisher nie zu einem Skandal gekommen war, und da sie ihren Reichtum mit einem ausgeprägten
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