Urangst
Sinn für das Gemeinwohl erlangt hatten, waren sie der Überzeugung, eine brave Ehefrau und Kinder könnten einem Mann, der andernfalls seinen Schwächen erliegen würde, die nötige Standfestigkeit geben.
Amy brachte eine Tochter zur Welt, als sie neunzehn Jahre alt war, und eine Zeit lang schien alles bestens zu sein. Ein langes Leben voller Privilegien und Freuden zeichnete sich ab. Michael trat sein Erbe an – und sie wusste immer noch nicht, dass sie nur Mittel zum Zweck gewesen war.
Allmählich begann sie einen ganz anderen Mann in ihm zu sehen als den, den sie zu heiraten geglaubt hatte. Je besser sie ihn kennenlernte, desto weniger echt wirkte sein Charme und desto mehr erschien ihr eben dieser Charme wie ein Werkzeug, das er gezielt einsetzte, um andere zu manipulieren. Die Fassade seines warmherzigen Auftretens zerbröckelte und zeitweilig kam dahinter Kälte zum Vorschein.
Er war generell lüstern veranlagt und beging mehr als nur den einen oder anderen Seitensprung. Zweimal fand sie Beweise, aber in den meisten Fällen war ihr die Wahrheit nicht aufgrund von Tatsachen, sondern aufgrund ihrer eigenen
Schlussfolgerungen bekannt. Er neigte zum Jähzorn, verbarg das jedoch bis zum Beginn ihres dritten Jahres gut.
Als sie zwei Jahre verheiratet waren, hatte Amy begonnen, immer öfter und länger in ihrem Ferienhaus zu bleiben, einem atemberaubenden Anwesen über dem Meer, auf dem das Haus des Leuchtturmwärters zu einer ansehnlichen Villa ausgebaut worden war. Der Leuchtturm selbst gehörte zwar den Coglands, doch er war schon vor langer Zeit auf automatischen Betrieb umgestellt worden; einmal im Monat wurde er von Ingenieuren der Küstenwache gewartet, die in einem Hubschrauber angeflogen kamen.
Michael blieb gern in der Stadt. Er kam so selten zu Besuch, wie es sich irgend einrichten ließ, wenn er den Anschein einer Ehe aufrechterhalten wollte. Aber sein Verlangen nach ihr war abgeflaut, und daher schlief er sogar während seiner Besuche oft in seinem eigenen Zimmer. Er schien ihr eine Verachtung entgegenzubringen, die sie weder verdient hatte noch verstehen konnte.
Sie blieb ausschließlich um ihres Kindes willen mit ihm verheiratet. Amy liebte ihre Tochter abgöttisch und wollte, dass sie in dem beständigen familiären Umfeld aufwuchs, das für Generationen von Coglands charakteristisch war. In Wahrheit, so sagte sie sich, bliebe sie aus keinem anderen Grund.
Obwohl sie sich nach einer echten Paarbeziehung sehnte und unter ihrer Einsamkeit litt, gefiel ihr diese Lebensweise. Sie gefiel ihr vielleicht sogar zu gut: die herrschaftliche Aura alten Geldes, der friedliche Rhythmus eines Alltags ohne Mühen, die Schönheit ihres Anwesens.
Jetzt, Jahre später, nachdem sie zu einer ganz anderen Amy als diese junge Frau geworden war, bremste sie hinter
dem Verkehr, der die Rampe zur Golden Gate Bridge hinaufkroch.
Ohne Brian anzusehen sagte sie: »Er wollte unsere Tochter Nicole nennen und mich hat das gefreut, weil es ein hübscher Name ist, aber als sie drei Jahre alt war, habe ich sie nur noch Nickie genannt.«
56
Wenn die Dunkelheit vor den Fenstern fortgeht, wenn Piggy sich ziemlich sicher ist, dass Mutter und der Mann schlafen, dann schläft auch sie.
Wenn sie schläft, während die beiden nicht schlafen, könnte sie aufwachen und sehen, dass ihre Mutter sie beobachtet. Es macht ihr Angst, von Mutter im Schlaf beobachtet zu werden.
Manchmal wird sie wach, und Mutter hat Feuer. Ein Feuerzeug. Ihr Daumen knipst das Feuer an. Dann geht es aus. Immer wieder. Mutter beobachtet Piggy beim Schlafen und macht Feuer.
Piggy träumt von Bär. Er hat eine Handpuppe auf jeder Hand. Die Handpuppen sind so komisch wie sie es waren, als Bär noch nicht tot war.
Dann ist Mutter in dem Traum. Sie hält Feuer an die Handpuppen. Bärs Hände stehen in Flammen.
In dem Traum sagt Piggy: Nein, nein, so war es nicht, kein Feuer, es war ein Messer.
Jetzt geht Bärs Haar in Flammen auf. Er sagt zu Piggy: Lauf. Lauf. Lauf, Piggy, lauf! Bärs Mund spuckt Feuer und seine Augen schmelzen.
Piggy setzt sich im Bett auf. Wirft die Decken zur Seite. Steigt aus dem Bett. Sie steht zitternd da und schlingt die Arme um ihren Oberkörper.
Sie fühlt sich so allein. Sie hat Angst. Sie hat Angst, dass sie ewig allein sein wird, all die Tage, die kommen, und dann nochmal so viele.
Sie eilt zu dem breiten Sessel und hebt das Polster hoch. Das Polster hat einen Bezug. Der Bezug hat einen Reißverschluss.
Mit Dem Was Ewig
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