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Urangst

Urangst

Titel: Urangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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war.
    Obwohl außer ihm niemand in der Wohnung anwesend war und obwohl er zugesehen hatte, wie die verschiedenen Bleistifte in seiner Hand das Bild hervorgebracht hatten, wuchs in ihm die Überzeugung, dass er weder das Genie noch die Kunstfertigkeit besaß, die erforderlich war, um die verblüffende Dimension oder das leuchtende Geheimnis zu Papier zu bringen, das jetzt diese fertiggestellten Augen beseelte.
    In seinen vierunddreißig Lebensjahren hatte er nicht die geringste Erfahrung mit dem Übernatürlichen gemacht und
er hatte auch keinerlei Interesse daran. Als Architekt glaubte er an Linien und Licht, an Form und Funktion und an die Schönheit von Dingen, die gebaut wurden, um zu überdauern.
    Als er die letzte Zeichnung aus dem Block riss und zur Seite legte, konnte er sich trotzdem des unheimlichen Gefühls nicht erwehren, dass es sich bei dem Talent, das sich hier offenbarte, nicht um sein eigenes handelte.
    Vielleicht war es das, was die Psychologen Flowstate nannten, was Berufssportler meinten, wenn sie von davon sprachen, in der »Zone« zu sein, ein Moment der Transzendenz, in dem der Geist keine Barrieren des Selbstzweifels errichtet und daher einer Begabung gestattet, sich vollständiger zu entfalten, als es je zuvor möglich war.
    Das Problem an dieser Erklärung war, dass er nicht das Gefühl hatte, die Dinge vollständig in der Hand zu haben, wogegen man seine Gaben im Flowstate angeblich uneingeschränkt meistert.
    Die leere Seite auf dem Block vor ihm verlangte beharrlich seine Aufmerksamkeit.
    Geh diesmal noch näher an die Augen heran, dachte er. Geh aufs Ganze. Geh tatsächlich in die Augen hinein.
    Aber erst brauchte er eine Pause. Er legte den Bleistift hin, nahm ihn aber sofort wieder zur Hand, ohne sich auch nur zu strecken und seine Finger zu lockern, fast als hätte seine Hand ihren eigenen Willen.
    Es erschien ihm beinahe so, als beobachte er sich aus einer gewissen Entfernung, während er das X-acto-Messer benutzte, um das Holz wegzuraspeln und den Bleistift zu spitzen.
    Nachdem er eine Auswahl von Bleistiften mit dem Messer gespitzt hatte, um ihnen typische Spitzen, runde und abgeschrägte zu geben, und nachdem er jede Spitze auf einem
Block Schmirgelpapier nachgeschliffen hatte, legte er den letzten Bleistift und das Messer zur Seite.
    Er stieß seinen Stuhl vom Tisch zurück, stand auf und ging zum Spülbecken in der Küche, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen.
    Als er die Hand nach dem Wasserhahn ausstreckte, um ihn aufzudrehen, merkte er, dass er noch einen Bleistift in der rechten Hand hielt.
    Er warf einen Blick auf den Tisch. Der Bleistift, von dem er glaubte, er hätte ihn neben dem Zeichenblock liegen lassen, war nicht da.
    Bevor Amy ihn angerufen hatte, damit er ihr bei der Rettungsmission beistand, hatte er nur eine Stunde geschlafen. Die Erschöpfung war ihm Erklärung genug für seine derzeitige Geistesverfassung und diese leichte Verwirrung.
    Er legte den Bleistift auf das Schneidebrett neben dem Spülbecken und starrte ihn einen Moment lang an, als erwarte er, der Bleistift würde sich aufrichten, sich auf seine Spitze stellen und kritzelnd zu ihm zurückkehren.
    Nachdem er mit zwei hohlen Händen kaltes Wasser geschöpft und sein Gesicht mehrfach darin eingetaucht hatte, trocknete er sich mit Papiertüchern ab, gähnte, rieb sich mit einer Hand die Bartstoppeln und streckte sich dann genüsslich.
    Er brauchte Koffein. Im Kühlschrank waren ein paar Dosen Red Bull, die er für knappe Abgabetermine von Entwürfen bereithielt, die manchmal erforderten, dass er die ganze Nacht durcharbeitete.
    Der Bleistift war nicht in seiner rechten Hand, als er die Kühlschranktür öffnete. Er hielt ihn in der linken.
    »Erschöpfung, meine Fresse.«
    Er legte den Bleistift auf einen der Glasböden im Kühlschrank, vor eine Frischhaltedose, die mit den Resten einer Pasta mit Pesto gefüllt war.

    Nachdem er die Lasche an dem Ring rausgezogen und einen großen Schluck Red Bull getrunken hatte, schloss er den Kühlschrank, ohne den Bleistift herauszunehmen. Er sah ihn deutlich auf dem Glasboden vor dem Pastabehälter liegen, während die Tür zuschwang.
    Als er an den Tisch zurückkehrte und die Dose Red Bull abstellte, merkte er, dass in der Tasche seines Hawaiihemds ein Bleistift steckte.
    Das musste ein anderer Bleistift sein als der, der im Kühlschrank lag. Er musste schon in seiner Hemdtasche gesteckt haben, als er vom Tisch aufgestanden war, um sich das Gesicht zu

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