Urangst
waschen.
Er zählte die Bleistifte auf dem Tisch. Zwei sollten fehlen: der in seiner Tasche und der im Kühlschrank. Aber es fehlte nur einer.
Ungläubig kehrte er zum Kühlschrank zurück. Der Bleistift, den er vor der Frischhaltedose liegen lassen hatte, war nicht mehr da.
Mal war er hier, mal war er da, mal war er weg.
Als er wieder am Tisch saß, zog Brian den Bleistift aus seiner Hemdtasche. Mit kühnem Schwung und einer Fingerfertigkeit, die an Taschenspielerkunst grenzte, brachte er den Stift in die richtige Zeichenhaltung.
Er hatte nicht beabsichtigt, in dieser Form mit dem Bleistift zu spielen. Seine Finger schienen eine Erinnerung an emsiges Üben in einem früheren Leben, in dem er vor einem Publikum Zaubertricks vorgeführt hatte, an den Tag zu legen.
Die Spitze berührte das Papier und Graphit schien fast so rasch wie eine Flüssigkeit zu fließen und die Rätselhaftigkeit von sich ständig wandelnden Lichtströmen und durchscheinenden Schleiern in den weitblickenden Augen der Hündin abzubilden.
Er machte sich jetzt weniger Gedanken darüber, was er malen würde, dann noch weniger, und dann machte er sich überhaupt keine Gedanken mehr. Unabhängig von ihm gestaltete seine inspirierte Hand flink Schatten und Andeutungen von Licht.
Die feinen Haare an seinem Nacken stellten sich auf, aber er war nicht erschrocken, ja noch nicht einmal besorgt. Eine stumme Verwunderung hatte von ihm Besitz ergriffen.
Wie er bereits vermutet hatte – und jetzt zweifelsfrei wusste –, konnte er nicht für sich in Anspruch nehmen, der Künstler zu sein. Er war nichts weiter als ein Instrument, ebenso wie der Bleistift, den er in der Hand hielt. Der Künstler blieb unbekannt.
15
Nach wenigen Stunden Schlaf wachte Amy um halb acht auf, duschte, zog sich an, servierte drei Näpfe Trockenfutter und unternahm einen Morgenspaziergang mit ihren Kids.
Drei große Hunde hätten Amys Kräfte und ihren Gleichgewichtssinn auf die Probe stellen können. Doch zum Glück schien Nickie eine gute Ausbildung erhalten zu haben. Jedes Mal, wenn Amy die Leinen sinken ließ, um Hundehaufen in die blauen Tüten zu schaufeln, reagierte Nickie so zuverlässig wie Fred und Ethel auf ihren Befehl Sitz und bleib .
Der angenehm warme Morgen wurde durch eine Brise aufgefrischt, die so zart war wie eine Liebkosung. Die Wedel der Fiederpalmen warfen Schatten, die den befederten Ruten der Hunde ähnelten.
Da sie später als sonst aufgewacht war, bürstete Amy alle drei Hunde in nur einer Stunde. Sie lagen so entspannt da wie Menschen, die sich in einem Spa verwöhnen lassen. Amy nahm sich mehr Zeit für Nickie als für die anderen beiden, fand aber keine Zecken.
Um neun Uhr vierzig saßen alle vier in Amys Geländewagen und fuhren aus Laguna Beach heraus, um zu einem Abenteuer aufzubrechen.
Der erste Halt diente einem Besuch bei Dr. Sarkissian, einem Tierarzt, der sich einem Netzwerk von Kollegen angeschlossen hatte, die gerettete Hunde zu ermäßigten Preisen behandelten, bis sie dauerhaft untergebracht waren.
Nach einer Untersuchung verabreichte Harry Sarkissian Nickie eine ganze Reihe von Impfungen. Er verschrieb ihr ein Mittel gegen Flöhe, Zecken und Herzwürmer. Das Blutbild würde in zwei Tagen aus dem Labor zurückkommen.
»Aber dem Mädchen fehlt nichts«, sagte er voraus. »Sie ist eine Schönheit.«
Als Amy mit Nickie zu dem Ford Expedition zurückkehrte, schmollten Fred und Ethel ein Weilchen. Sie wussten, dass ein Besuch beim Tierarzt immer auch ein leckeres Plätzchen bedeutete. Außerdem konnten sie es im Atem ihrer Schwester riechen.
Renata Hammersmith wohnte weiter landeinwärts, wo kleine Flecken mit gutem Weideland für Pferde den erbarmungslosen Vormarsch südkalifornischer Vorstädte bis heute überlebt hatten.
Sie trug ausnahmslos Stiefel, Jeans und karierte Hemden. Man konnte sich so felsenfest darauf verlassen, dass Amy es geglaubt hätte, wenn jemand behauptet hätte, die Frau lege sich in einer ähnlichen Kluft schlafen, denn es war unmöglich, sie sich in einem Schlafanzug oder einem Morgenmantel vorzustellen.
Ihr Anwesen von 1,2 Hektar war von weißen Weidezäunen umgeben und früher hatten dort Pferde auf einer Wiese gegrast, die heute als Vorgarten diente.
Die Pferde wurden zum reinen Luxus, als Renatas Ehemann Jerry in seinem geliebten Ford Mustang Baujahr 1967 frontal von einem Pick-up gerammt wurde.
Jerry war danach nicht nur von der Taille abwärts gelähmt, sondern hatte auch seine Milz, eine
Weitere Kostenlose Bücher