Urangst
hinteren Veranda.
Er war neununddreißig Jahre alt, maß einen Meter zweiundsiebzig, hatte runde Schultern und einen Schmerbauch. Sein beigefarbenes Haar lichtete sich bereits kräftig. Das charakteristischste Merkmal seines Gesichtes war das fliehende Kinn.
Die Leute sahen nicht einfach nur über ihn hinweg oder an ihm vorbei – sie sahen durch ihn hindurch.
In seinem Beruf verschaffte ihm die Unsichtbarkeit allerdings einen Vorteil. Er war Privatdetektiv.
Amy Redwing hatte ein anständiges, solides Schloss an ihrer Hintertür, nicht eines dieser Kinkerlitzchen, die toll aussahen und nichts taugten, auf die sich aber so viele Leute verließen; Vern hatte es trotzdem in weniger als einer Minute ausgetrickst.
Ihre Küche war ein fröhlicher Raum, ganz in Weiß und Gelb gehalten. Noch vor einem Jahr hätte Vern sie um ihr gemütliches kleines Heim beneidet.
Jetzt besaß er in seinem anderen Leben eine gepflegte moderne Villa auf einer Klippe über dem Meer. Er war auf niemanden mehr neidisch.
Das Kraftfahrzeugamt und das Finanzamt glaubten, Vernon Lesley hause in einer Zweizimmerwohnung in einem ärmlichen, schäbigen Viertel von Santa Ana. Dort hatte man keine Ahnung, dass er unter dem Namen Von Longwood auf wesentlich größerem Fuß lebte.
Von Longwood hatte beim Kraftfahrzeugamt nie einen Führerschein beantragt und er hatte auch noch nie einen Cent Steuern bezahlt. Er hinterließ keine Spuren, denen die Behörden nachgehen konnten.
Nachdem er in der Küche sämtliche Jalousien heruntergezogen hatte, stellte sich Vern auf einen der Esstischstühle, um die oberen Hängeschränke zu durchsuchen. Allmählich arbeitete er sich zu den untersten Türen und Schubladen vor.
Er achtete sorgsam darauf, alles wieder dahin zurückzustellen, wo er es vorgefunden hatte. Amy Redwing sollte nicht wissen, dass ihr Haus durchsucht worden war; sein Klient wünschte es so.
Normalerweise benutzte Vern, wenn er eine illegale Durchsuchung vornahm, gern die Toilette, benutzte sie ausgiebig und spülte dann nicht. Das betrachtete er als seine Signatur, wie Zorro, der mit seinem Degen ein Z in Gegenstände ritzte.
Ohne jeden anderen Hinweis darauf, dass jemand in sein Haus eingedrungen war und seine Privatsphäre verletzt hatte, musste der Besitzer annehmen, er selbst hätte eine volle Toilettenschüssel zurückgelassen.
Doch Vern hatte die Absicht, diesmal keine Visitenkarte zu hinterlegen. Selbst wenn Amy Redwing geneigt gewesen wäre zu glauben, sie hätte vergessen, die Spülung zu betätigen, würde die Reaktion von mindestens einem der Hunde wahrscheinlich ihren Argwohn erregen.
Vern mochte Hunde nicht, vor allem deshalb, weil er noch keinem begegnet war, der ihn mochte. Menschen starrten geradewegs durch Vern hindurch, aber Hunde sahen ihn lange und fest an und forderten ihn auf, nähere Bekanntschaft mit ihren Zähnen zu machen.
In der Highschool war er mit einer Ratte namens Cheesy gesegnet gewesen. Eine gute Ratte gab ein ausgezeichnetes Haustier ab, niedlich und verschmust. Er und Cheesy hatten gute Zeiten miteinander erlebt und zahllose vertrauliche Gespräche geführt. Wie schön diese Erinnerungen doch waren.
Von der Küche führte ein kleines Gästebad ab. Vern widerstand der Versuchung der Toilette.
Im Bad fand er nichts von Interesse, mit Ausnahme seines Spiegelbilds. Er blieb davor stehen, um sich anzulächeln.
Für den größten Teil seines Lebens hatten Spiegel keinen Reiz auf ihn ausgeübt. Er hatte sie sogar gemieden.
Aber wenn er dieser Tage vor einem Spiegel stand, sah er nicht Vernon Lesley. Er sah Von Longwood, diesen liebenswerten Prachtburschen, der einen dichten Haarschopf und blaue Augen hatte.
Als er wieder in der Küche war, nahm er sich die Pizzas, das Tiefkühlgemüse und die Behälter mit Speiseeis im Gefrierschrank
vor. In der Speisekammer überprüfte er den Inhalt jeder angebrochenen Packung, um sicherzugehen, dass sie enthielt, was der Aufdruck versprach.
Wenn jemand Erinnerungen an ein anderes Leben verbergen wollte, versteckten die Leute die Beweise oft an Orten, die einem Unerfahrenen, der sich auf die Suche danach machte, viel zu unwahrscheinlich erschienen wären. Folglich vergewisserte er sich, dass die Packung Cracker tatsächlich Cracker enthielt und dass kein Speiseeisbehälter mit dem Aufdruck Schokolade-Karamell oder Erdbeer-Joghurt stattdessen einen Schatz an Liebesbriefen barg.
Er suchte nicht direkt nach Liebesbriefen. In Amy Redwings anderem Leben waren ihr
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