Urangst
hinter den Schreibtisch.
Er führte Amy zu einem der Stühle und nahm ihr gegenüber Platz. Ihre Knie berührten sich.
Von ihren Logenplätzen sahen Fred, Ethel und Nickie mit ernstem Interesse zu.
Als Brian seine Hände mit den Handflächen nach oben ausstreckte, legte Amy ihre Hände sofort in seine und machte ihm damit Mut, zu sprechen. »Es gibt etwas, das ich dir
hätte sagen sollen, Amy. Schon vor langer Zeit. Aber ich dachte, so, wie die Dinge lagen, bräuchte ich es dir vielleicht nie zu sagen.«
Als er zögerte, drängte sie ihn nicht. Ihre Hände in seinen waren nicht feucht und auch nicht kalt geworden. Ihr Blick blieb weiterhin fest und unbeirrt.
»Als ich noch jünger war, viel jünger, war ich in vielerlei Hinsicht ein Idiot. Eines dieser Dinge war Sex. Ich dachte, das sei alles ganz locker, Frauen seien eine Form von Zeitvertreib. Mein Gott, klingt das grässlich. Aber mit dieser Haltung kamen zu der Zeit nun mal so viele von uns aus dem College. Das Leben hatte mir keine Lehren zu erteilen. Das dachte ich tatsächlich.«
»Aber es hört nie auf, einem Lehren zu erteilen«, sagte sie.
»Nein. Es ist eine einzige lange Lektion. Daher … gab es eine beträchtliche Anzahl von Frauen, zu viele. Die Verhütung habe ich ganz und gar ihnen überlassen, weil auch sie es für einen Zeitvertreib zu halten schienen. Ich wusste einfach, dass sie das Risiko einer Schwangerschaft nicht eingehen würden. Sie wollten keine Folgen. Sie wollten einfach nur bumsen. Aber eine von ihnen war … anders. Vanessa. Wir waren nicht lange zusammen, aber sie hat keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Ich habe ein Kind gezeugt.«
Sein Mund war ausgetrocknet. Seine Kehle fühlte sich geschwollen an, wie eine Falle, die all seine Worte gefangen hielt.
»Ich denke jeden Tag an meine Tochter. Ich liege nachts wach und frage mich: Ist alles in Ordnung mit ihr, gibt man ihr jemals die Chance, glücklich zu sein, ist sie wenigstens in Sicherheit? Bei Vanessa … kann sie nicht in Sicherheit sein. Ich habe versucht, sie zu finden. Es ist mir nicht gelungen.
Ich habe als Vater versagt, als Mann versagt, in den grundlegenden Dingen versagt.«
Amy sagte: »Kein Versagen ist für immer.«
»Es kommt mir aber so vor, als sei es für immer. Ich habe sie nur ein einziges Mal ganz kurz gesehen, als sie noch ein Kleinkind war. Wie kann ich ein Kind so sehr lieben, wo ich es doch nur ein einziges Mal gesehen habe?«
»Das Entscheidende ist, dass du es kannst. Du besitzt die Fähigkeit dazu.«
»Sie ist ein Kind mit Down-Syndrom«, sagte er. »Ich fand, sie sähe aus wie ein Engel, wunderschön. Ich bezweifle, dass sie überhaupt etwas von meiner Existenz weiß. Ich wollte sie unbedingt sehen, zehn Jahre lang habe ich mir gewünscht, sie zu sehen, aber ich habe nie damit gerechnet, sie jemals wiederzusehen. Und jetzt … ändert sich alles.«
Amy drückte seine Hand und sagte: »Nicht alles. Es gibt immer noch dich und mich, daran hat sich nichts geändert.«
ZWEITER TEIL
»Der Wald ist dunkel, tief und lieblich anzusehen, doch ich muss weiterhin zu meinem Worte stehen.«
ROBERT FROST
Rast am Walde bei nächtlichem Schnee
33
Die Tagesdecke spannt sich straff über dem Bett und ist an den Rändern untergeschlagen, die Kissen sind aufgeschüttelt. Keine glatte Fläche wird von einer Staubschicht getrübt.
Von Piggy wird verlangt, dass sie stets für Sauberkeit und Ordnung in ihrem Zimmer sorgt, und ihre Mutter führt in unregelmäßigen Abständen Inspektionen mit strengen Maßstäben und noch strengeren Strafen durch.
Harrow hat den Verdacht, das Kind würde sein Zimmer auch dann fleckenlos rein halten, wenn es nicht von ihm gefordert würde. Nicht die Androhung von Züchtigungen garantiert die Reinlichkeit des Kindes.
Sie lässt ein Verlangen nach Ordnung erkennen, nach ruhiger Kontinuität, und eine Sehnsucht nach Beständigkeit in allen Dingen. Das zeigt sich darin, wie sie das Bildmaterial ihrer Collagen anordnet, und auch in den klassischen Mustern, die sie verwendet, um die Puppenkleider mit Stickgarn zu verzieren.
»Piggy, du kannst nicht nur das Sandwich essen«, sagt Moongirl. »Du weißt nicht, was ausgewogene Ernährung bedeutet, aber ich weiß es. Iss etwas von dem Kartoffelsalat.«
»Mach ich«, erwidert Piggy, aber sie greift immer noch nicht nach dem Plastikbehälter.
In Moongirls Gesellschaft hebt das Kind selten den Kopf und stellt noch seltener Blickkontakt her. Es weiß, dass seine Mutter Bescheidenheit und
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