Urangst
Plastikbeutel ab, mehr, als sie brauchen würden, genug für drei Tage. Er packte sie mit einem Fressnapf, einem Wassernapf und anderem Hundebedarf in eine Einkaufstasche, während Nickie höflich und erfolgreich um ein paar Häppchen bettelte.
In ihrem Schlafzimmer wählte Amy Kleidungsstücke für zwei Tage aus – Jeans und Pullover – und packte sie mit ihrer SIG P245 in eine kleine Reisetasche. Sie tat auch ein volles Ersatzmagazin dazu.
Seit sie nach Kalifornien gezogen war, hatte sie die Waffe nicht benutzt.
Sie hatte keine klaren Gründe für die Vermutung, sie würde sie auf dieser Reise brauchen. Vanessa war offenbar eine gestörte, kleinliche und rachsüchtige Frau – nach ihren E-Mails zu urteilen sogar grausam –, aber das machte sie noch lange nicht zur Mörderin.
Tatsächlich schien sie zu selbstsüchtig zu sein, um etwas zu tun, das ihre Freiheit – und somit ihr Vergnügen – gefährdete. Um sich ein privilegiertes Leben im Luxus an der Seite des reichen Mannes zu sichern, der offenbar mehr mit seinem kleinen als mit seinem großen Kopf dachte, hatte sie guten Grund, diese Übertragung des Sorgerechts ohne Pannen abzuwickeln.
Außerdem hatte Vanessa – wenn sie ihrer Tochter auch eine schlechte Mutter gewesen sein mochte, die ihr Kind
abgelehnt hatte und gemein zu ihm gewesen war – Hope weder ausgesetzt noch im Säuglingsalter erstickt. Den Nachrichten zufolge landeten heutzutage ja schon fast mehr Babys als Welpen auf Müllhalden. Wenn sie ein Jahrzehnt damit verbracht hatte, sich um das Mädchen zu kümmern, ganz gleich, wie widerwillig, dann schien das doch zumindest auf eine Spur Verantwortungsgefühl hinzuweisen, das die letzte Kammer in den ansonsten finsteren Tiefen ihres Herzens noch erhellte.
Da sie selbst im Alter von zwei Jahren mit einem Namensschild auf dem Hemd ausgesetzt worden war, konnte Amy nie mit Sicherheit sagen, wer sie war oder dass ihre leiblichen Eltern sie weniger abstoßend gefunden hatten als Vanessa das Mädchen, das sie Piggy nannte.
Im Alter von drei Jahren war sie im Waisenhaus Mater Misericordiae von einem kinderlosen Paar adoptiert worden, von Walter und Darlene Harkinson. Sie hatte offiziell den Namen der beiden angenommen.
Ihre Erinnerungen an ihre Adoptiveltern waren verschwommen, weil ihr Wagen nur eineinhalb Jahre später von einem Zementlaster gerammt worden war. Walter und Darlene waren sofort tot gewesen, aber Amy hatte den Unfall unbeschadet überlebt.
Mit viereinhalb und zweifach traumatisiert – zum einen durch die Aussetzung, zum anderen durch den Verlust – war Amy in das Waisenhaus zurückgekehrt und hatte dort bis kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag gelebt.
Die junge Amy Harkinson hätte fürs Leben geschädigt sein können, wären ihr nicht die Weisheit und die Güte der Nonnen zuteilgeworden. Die Nonnen allein hätten sie jedoch nicht wiederherstellen können.
Nicht weniger wichtig als die Nonnen war der Golden Retriever gewesen, der, nur einen Monat nach ihrer Rückkehr
ins Waisenhaus, über eine herbstliche Wiese auf sie zugehinkt kam, schmutzig und halb verhungert.
Sein Charme hatte dem Golden einen festen Wohnsitz im Waisenhaus eingetragen. Und aufgrund einer mysteriösen Zuneigung hatte sich die Hündin an Amy enger als an alle anderen angeschlossen und war für sie nicht weniger als eine Schwester und die wichtigste Heilerin ihres Herzens geworden.
Seltsamerweise war das, was Amy jetzt dazu brachte, die Pistole in ihre Reisetasche zu packen, nicht die Hexe, die Brian mit ihren E-Mails gemartert hatte, sondern der neue Golden Retriever, der vor noch nicht ganz einem Tag in ihrem Leben aufgetaucht war, mit einer geheimnisvollen Ausstrahlung und einem direkten Blick, der sie gewaltig an die Hündin erinnerte, die ihrem Leben vor langer Zeit einen Sinn gegeben und sie vielleicht sogar gerettet hatte.
Sie hatte Grauen, Verlust und Chaos erlebt, aber immer wieder hatte sie nach dem Grauen zumindest einen unbeständigen Frieden, nach dem Verlust Hoffnung und im Kielwasser chaotischer Strudel klare Muster gefunden. Tatsächlich war es ihr Blick für Muster, der ihr das Weiterleben ermöglichte.
Die Direktheit von Nickies Augen, Theresas wunderschöne, wenn auch lädierte blauviolette Augen, Brians Zeichnungen der Augen der Hündin, das lebhafte Zwinkern seiner Großmutter im Traum, das helle Auge des Leuchtturms, das nach all diesen Jahren wiederholt in ihrer Erinnerung aufflackerte, der blinde Marco auf den Philippinen (ob
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