Urban Gothic (German Edition)
sind Leute gefangen. Wie sollen wir die denn retten, wenn der Schuppen abfackelt?«
»Oh, richtig. Schätze, daran hab ich nicht gedacht.«
»Ach was.«
»Ihr Jungs wartet hier eine Minute.« Ächzend mühte sich Mr. Watkins auf die Beine und wischte sich die Hose ab. Er verschwand in sein Haus, und sie warteten. Leo hörte ihn mit Mrs. Watkins reden, konnte aber nicht verstehen, worüber sie sprachen. Nach dem Tonfall zu urteilen, stritten sie über etwas. Dann wurde es still. Ein schwarzer Nissan mit getönten Scheiben und violetten Begrenzungsleuchten rollte langsam vorbei. Der Subwoofer im Kofferraum des Autos brachte die Fenster der benachbarten Häuser zum Vibrieren. Gemächlich bog das Fahrzeug um die Ecke. Die Jungen sahen ihm nach, bis es verschwand.
»Wisst ihr was?« Dookies Stimme erklang leise und nachdenklich und er schaute zum Himmel, als er sprach. »Ich will hier nicht sterben.«
»Wir werden da drin nicht sterben«, beruhigte ihn Jamal. »Wir wollen uns nur umsehen und diesen weißen Kids raushelfen.«
»Nein, ich meine nicht da drin. Ich meine hier, in diesem Häuserblock. Ich will nicht steinalt werden und nie weiter als bis nach Nord-Philadelphia gekommen sein. Mr. Watkins hat über die Vororte und so geredet. Die will ich sehen. Wahrscheinlich ist es dort auch nicht anders als hier, aber das will ich selbst rausfinden.«
Keiner der anderen hatte darauf eine Antwort parat. Insgeheim wünschte sich Leo dasselbe. Und er war überzeugt davon, dass dies auch für den Rest seiner Freunde galt. Den weitesten Ausflug von zu Hause hatte er vor sechs Jahren absolviert. Damals war er zehn gewesen. Seine Mutter hatte ihn und seinen Bruder für ein Sommerprogramm angemeldet, in dessen Rahmen Kinder aus der Stadt für zwei Wochen bei einer Familie auf dem Land wohnten. Ihre Adoptivfamilie, die Gracos, war in Ordnung gewesen. Mr. Graco verdiente sich den Lebensunterhalt damit, Comics zu schreiben, und seine Frau Mara arbeitete als Versicherungsmaklerin. Sie hatten zwei Kinder – Dane, einen Jungen in Leos Alter, und Doug, etwa so alt wie Leos kleiner Bruder.
Die Gracos lebten in einem großen Farmhaus mit einem noch größeren Grundstück und jeder Menge Wald und Feldern ringsum. Anfangs hatte Leo die Umgebung eingeschüchtert. Er hatte sich dort unwohl gefühlt, und obwohl er in jenem Sommer eine schöne Zeit verbracht hatte, war er dankbar gewesen, als er wieder nach Hause zurückkehrte. Aber manchmal spät in der Nacht lag Leo im Bett, lauschte den Geräuschen der Stadt, dachte an jenen Ort so weit draußen auf dem Land und erinnerte sich, wie ruhig es dort gewesen war. Er stellte sich vor, dauerhaft dort zu leben, nicht verängstigt durch die Straßen zu laufen, ständig seine Umgebung im Auge behalten und Angst um seine Freunde und Familie haben zu müssen. Natürlich gab es selbst für Leute wie die Gracos wahrscheinlich Sachen, vor denen sie sich fürchteten. Monster lauerten überall. Man brauchte nur die Steine hochzuheben, unter denen sie sich versteckten, schon fand man sie.
Wenige Minuten später kehrte Mr. Watkins aus dem Haus zurück. In der Hand trug er eine Plastiktüte.
»Und?«, fragte Leo. »Haben Sie angerufen?«
Er nickte. »Ja. Und ob ich angerufen hab.«
»Und was haben die gesagt?«
»Sie haben gar nichts gesagt. Ich bin nicht durchgekommen. Hab nur eine gottverdammte Nachricht gehört, die mir mitgeteilt hat, dass alle Leitungen besetzt sind und ich es später noch mal versuchen soll.«
»Das ist beschissen«, fand Jamal.
»Ja«, pflichtete ihm Mr. Watkins bei. »Ist es.«
Leo wandte sich dem Haus am Ende des Blocks zu. »Also, ihr könnt ja machen, was ihr wollt. Ich geh da jetzt rein.«
»Wir müssen uns zuerst Schießprügel besorgen«, erinnerte ihn Chris.
»Sollen wir’s bei Cheeto oder Tawan probieren? Wahrscheinlich können die was für uns einfädeln. Oder vielleicht Terrell?«
»Wir gehen zu Terrell«, entschied Leo.
»Ihr Jungs tut nichts dergleichen.« Mr. Watkins kam auf den Gehsteig. Die Plastiktüte raschelte, als er hineinfasste. Grinsend zog er seine Pistole daraus hervor. Dann reichte er die Tüte Leo, der hineinspähte und mehrere Taschenlampen entdeckte.
»Ich begleite euch hinein«, verkündete Mr. Watkins. »Und ich gehe als Erster, weil ich die Pistole habe. Der Rest von euch kann sich mit Taschenlampen ausrüsten.«
»Scheiße auch«, meinte Leo grinsend. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
13
»Los!«, brüllte Javier. »Lauft
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