Urban Gothic (German Edition)
in ihre nackten Füße stach, doch sie verdrängte die Schmerzen und wagte nicht, die Schritte zu verlangsamen.
Allmählich wurden die Geräusche leiser, dann verstummten sie, trotzdem rannte sie weiter. Schließlich konnte sie nicht wissen, ob man sie nach wie vor verfolgte. In diesem Teil des Kellers – sofern sie sich überhaupt noch im Keller befand – herrschte undurchdringliche Schwärze. Sie wollte das Risiko nicht eingehen, stehen zu bleiben, um ihr Handy aus der Tasche zu ziehen. Sie hörte keine Schritte hinter sich, doch das musste nicht heißen, dass die Verfolger aufgegeben hatten. Die Kreaturen konnten immer noch darauf lauern, sie anzugreifen. Ohne anzuhalten, schaute Heather instinktiv zurück, wobei sie vergaß, dass sie wahrscheinlich ohnehin nichts sehen konnte. Ihr Fuß landete dabei auf etwas Nassem. Sie rutschte aus und knallte gegen eine Mauer. Ihre Hände schossen vor, um den Fall zu bremsen, und scharfkantige Steine schnitten in ihre Handflächen. Heather japste, doch es gelang ihr, nicht zu schreien.
Mit den Händen im Schoß verharrte sie auf dem Boden. Heather spürte, dass ihr Blut über die Handflächen lief, hatte jedoch keine Möglichkeit, festzustellen, wie schlimm die Schnittwunden waren. Sie fragte sich, ob sie sich auch die Füße aufgerissen hatte, denn sie schmerzten. Sie wusste nicht, ob es an älteren Wunden oder den neu zugefügten lag. Sie hatte keine Ahnung, wie schlimm sie sich verletzt hatte. Sie wusste nicht, wo ihr Freund oder die anderen steckten. Sie wusste nicht, wo sich die seltsamen Gestalten befanden. Heather wusste nur, dass sie sich ganz allein in der Finsternis fühlte.
»Javier?«, flüsterte sie mit bebender Stimme. »Kerri?«
Sie bekam keine Antwort. Heather stand auf und lauschte. Das einzige Geräusch, das sie wahrnahm, war ihr eigenes raues Atmen. Falls sich Javier oder Kerri noch in der Nähe aufhielten, wollten – oder konnten – sie sich nicht melden. Sie sah sich in der Dunkelheit um, nicht mehr sicher, wo sie sich befand oder aus welcher Richtung sie gekommen war. Bei ihrem Sturz hatte sie völlig die Orientierung verloren. In weiter Ferne erblickte sie einen winzigen Flecken Helligkeit und gelangte kurz darauf zu dem Schluss, dass es sich um das Küchenlicht handeln musste, das in den Keller hereinschien. Allerdings wirkte es so weit entfernt, als sei der Keller deutlich größer als das darüber gebaute Haus. Durchaus denkbar. Oder sie war in eine Höhle geraten, die an den Keller grenzte. Sie konnte es nicht sagen. Ein Brennen breitete sich über ihre Hände aus. Heather beschloss, es zu wagen, und tastete nach ihrem Mobiltelefon, um ihre Wunden kurz zu inspizieren. Sie klopfte ihre Taschen ab, spürte die beruhigende Ausbuchtung des kompakten Geräts, entschied sich aber letztlich doch dagegen, es zu benutzen. Was, wenn es einer der Mörder hörte oder sah? Dunkelheit und Stille schienen sicherer zu sein.
»Kerri?«
Nichts.
Heather zog einen Schmollmund und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Sie konnte nicht bleiben, ganz gleich, wie intensiv der Drang sein mochte, sich einfach an Ort und Stelle einzurollen und ihre Lage zu ignorieren. In der Finsternis blieben nur der Tastsinn und das Gehör, um sich zu orientieren. Beide schienen im Augenblick nutzlos zu sein. Sie konnte es nicht riskieren, das Handy zu benutzen, was also blieb ihr? Sie klopfte den Boden ab und zuckte vor Schmerzen zusammen, als ihre Schnittverletzungen mit der rauen Oberfläche in Berührung kamen. Schließlich fand sie die Mauer und presste sich dagegen. Die kalte, klamme Wand fühlte sich gut an ihrer Haut an. So verharrte sie, holte Luft und wog erneut ihre Möglichkeiten gegeneinander ab. Javier und Kerri mussten sich irgendwo weiter vorn befinden. Es musste so sein, denn die Alternative schien zu beängstigend, um sie in Erwägung zu ziehen. Was, wenn Javier sie hier zurückgelassen hatte? Was, wenn Kerri noch bei Brett gewesen war, als in der Dunkelheit etwas mit ihm geschah – dem Klang nach etwas Grauenhaftes?
Was um alles in der Welt sollte sie tun, wenn keiner der anderen mehr lebte?
Irgendwo zu ihrer Rechten vernahm sie ein leises Schaben.
»Javier«, versuchte sie es erneut. »Bist du das?«
Diesmal erhielt sie eine Antwort.
»Komm, Miez, Miez, Miez ...«
Die Stimme gehörte nicht zu Javier. Vielmehr klang sie kaum menschlich, rasselnd und abgehackt. Die Worte wurden undeutlich artikuliert, und im Tonfall schwang unverkennbar eine
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