Urban Gothic (German Edition)
einigen Nachbarskindern Fangen spielte und sich dabei die Wade mit einem Stock durchbohrte, hatte sie die Schmerzen als schier unerträglich empfunden. Mehrere Wochen lang glaubte sie steif und fest, nie wieder laufen zu können, ohne dass es wehtat. Doch keine dieser Erfahrungen kam auch nur annähernd dem gleich, was sie in diesem Moment fühlte. Dutzende scharfe Zähne gruben sich fünf Zentimeter unterhalb ihres Knies in die Wade. Die Schmerzen erblühten wie eine Blume allmählich zu etwas Schillerndem und Lebendigem.
Krallen schlitzten über ihr Fußgelenk und die Zähne sanken tiefer in ihre Wade ein. Eine heiße Zunge, rau wie Schleifpapier, leckte an dem Blut, das aus der Wunde hervorquoll. Heather trat mit dem freien Bein aus und rammte die Ferse in das Gesicht der Kreatur hinter ihr. Die zuckte zurück, riss dabei jedoch einige Brocken Fleisch mit sich. Heather wirbelte herum und hackte blindlings mit dem Messer in die Finsternis. Etwas Heißes spritzte über Arm und Hand. Ihr Gegner stieß einen entsetzlich schrillen, blubbernden Schrei aus und entriss Heather das Messer. Sie hörte, wie das Monster um sich schlug und heulte, statt zu versuchen, sie erneut anzugreifen. Neben dem Geschrei vernahm Heather, wie sich der Rest der Horde näherte.
In der Hoffnung, dass der Körper der verwundeten Gestalt die anderen Kreaturen aufhalten könnte, drehte sich Heather um und quälte sich dem Ausgang des Tunnels entgegen. Als sie die Grotte erreichte, musste sie sich den Weg durch die Spalte in der Wand ertasten. Im Gegensatz zu vorher herrschte nun pechschwarze Finsternis in dem Raum. Einige der Zettel auf dem Boden raschelten unter ihren Füßen, als sie weiterstapfte.
Hinter ihr erklangen weiterhin die Geräusche ihrer Verfolger.
Javier versuchte zu schlucken, aber sein Mund erwies sich als staubtrocken. Sein Kopf sank auf die Schulter, als sie ihn zwangen, weiterzugehen. Seine Lider flatterten. Erschöpfung legte sich auf ihn wie eine schwere Decke. Jeder schlurfende Schritt nötigte ihm gewaltige Anstrengungen ab, und wenn er langsamer wurde, stießen ihn die Narbengesichtige und das behaarte Mädchen weiter. Noch lieber als zu fliehen, hätte er sich in diesem Augenblick einfach hingelegt, um zu schlafen. Er kämpfte gegen den Drang an, geistesgegenwärtig genug, um zu wissen, dass er zweifellos starb, wenn er ihm nachgab.
Tatsächlich drohte ihm ohnehin der baldige Tod, wenn ihm nicht schnell etwas einfiel. Seine Gegner gingen skrupellos vor, kannten kein Mitgefühl. Sie hatten ihm die Handgelenke so nüchtern, effizient und teilnahmslos aufgeschnitten, wie jemand beim Zubereiten eines Salats ein Stück Sellerie verarbeitete. Javier wusste nicht genau, wie lange er geblutet hatte, aber als sie ihn für hinlänglich geschwächt erachteten, ließ Scug die Gruppe anhalten, um ihm die Wunden mit feuchten, schimmligen Stofffetzen zu verbinden. Danach hatten sie Druck darauf ausgeübt, bevor sie ihn weitermarschieren ließen. Seine Handgelenke schmerzten noch immer, doch die Blutungen hatten aufgehört. Javier ahnte, dass sie bald wieder einsetzen würden – nicht nur an den Handgelenken. Spätestens, wenn sie ihr Ziel erreichten.
»Wohin bringt ihr mich?«, fragte er mit lallender Stimme.
Seine Entführer schwiegen.
»Hey«, versuchte es Javier erneut. »Wohin ...«
Scug schlug Javier so heftig mit dem Handrücken, dass seine Lippen aufplatzten. Javier zuckte zusammen und spuckte Blut aus, um es nicht schlucken zu müssen.
»Genug geredet«, warnte Scug und schnalzte mit dem Gürtel. »Machst du noch mal den Mund auf, weide ich dich gleich hier aus. Ich lass deine Eingeweide herausglitschen und zeige dir, wie nass und glänzend sie sind. Hast du schon mal einen Menschen mit seinen eigenen Gedärmen erwürgt? Ich schon. Viele Male. Ist immer wieder ein vergnüglicher Anblick. Sie zappeln herum und röcheln, die Augen quellen aus den Höhlen und die Gesichter laufen so dunkel an wie die um ihren Hals gewickelten Eingeweide. Das mache ich mit dir, wenn du nicht weitergehst.«
Javier beschloss, ein Risiko einzugehen. Er zuckte mit den Schultern und bemühte sich, zu lächeln. Sein Mund schmerzte dadurch, aber es erregte die Aufmerksamkeit des Mannes. Blut tropfte von Javiers aufgeplatzten Lippen.
»Was grinst du so?«, fragte Scug. »Du lächelst mir zu viel.«
»Ich dachte mir nur gerade, dass es ohnehin keine Rolle spielt. Macht, was ihr wollt. Die Polizei wird bald hier sein. Wir haben sie angerufen,
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