Urban Gothic (German Edition)
sie runterbringt. Geht ihm beim Schlachten zur Hand, falls er Hilfe braucht.«
Sie nickten zustimmend und Scug stapfte mürrisch davon, eilte den Tunnel zurück in die Dunkelheit. Javier versuchte, zu verarbeiten, was er gerade gehört hatte. Neuankömmlinge? Wer konnte das sein? Die Polizei? Die Typen von der Gang, die sie ursprünglich ins Haus gejagt hatten? Womöglich ihre Eltern, die nach ihnen suchten, nachdem sie Tylers Auto entdeckt hatten? Und wer hielt sich in der Kinderstube auf – was immer das sein mochte? Scug hatte angedeutet, dass es sich um einen seiner Freunde handelte, ein Mädchen. Damit konnte es nur Heather oder Kerri sein. Am liebsten hätte er unabhängig davon, ob sie ihn hören konnten oder nicht, eine Warnung gebrüllt, sich zu verstecken, weil Scug zu ihnen unterwegs war, doch das hielt er für reine Energieverschwendung. Um ihnen zu Hilfe zu eilen, musste er sich erst einmal befreien. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. Scug hatte zweimal Noigel und den Umstand erwähnt, dass er den Schädel von jemandem fickte. Beim ersten Mal hatte Javier nicht weiter darauf geachtet, aber beim zweiten Mal erwähnte Scug beiläufig, dass der Hüne das in der Nähe der Kellertreppe tat. Konnte das Opfer jemand von seinen Freunden sein?
Javiers Herz hämmerte. Ein Gefühl der Dringlichkeit überkam ihn. Er musste sich befreien, und zwar sofort – sowohl seinen Freunden als auch sich selbst zuliebe. Durch Scugs Abgang standen die Chancen ein wenig besser. Javier spürte, dass dies vielleicht die letzte Gelegenheit für eine Flucht darstellte. Er konzentrierte sich auf seine Atmung, als sie ihn zum Weitergehen zwangen, und versuchte, sich gleichzeitig zu beruhigen und jegliche Benommenheit abzuschütteln. Er ließ sich von den Weibchen weiterführen, bis er sicher war, dass sie sich außerhalb von Scugs Hörweite befanden. Dann holte er tief Luft und schritt zur Tat.
Javier taumelte nach vorn und verlagerte das Gewicht. Gleichzeitig krümmte er sich und bemühte sich verzweifelt, seine Arme dem Griff der Weibchen zu entwinden. Seine Strategie ging auf, allerdings nicht ohne Folgen. Die Taschenlampe der Frau landete klappernd auf dem Boden. Den rechten Arm konnte er der Narbengesichtigen vergleichsweise einfach entreißen, doch das behaarte Mädchen umklammerte seinen linken umso fester. Ihre Fingernägel bohrten sich in seine Wunde und es floss wieder Blut. Mit einem Aufschrei entzog ihr Javier den Arm, stolperte vorwärts und krachte gegen die Tunnelwand.
Er schüttelte den Kopf und versuchte einerseits, nicht die Besinnung zu verlieren, und andererseits, das Gleichgewicht zu halten. Die Frauen attackierten ihn. Javier wandte sich ihnen zu. Das behaarte Mädchen packte seine linke Hand und zog ihn mit einem Ruck in ihre Richtung. Gleichzeitig verdrehte sie seinen Arm so, dass das verwundete Handgelenk und die Handfläche nach oben wiesen und seine Finger zurückgebogen wurden. Ihr Kopf schnellte nach vorn, Augen und Zähne schimmerten in der Dunkelheit. Als sich ihr Mund auf seine Hand senkte, erfasste Javier mit den Fingern ihre Oberlippe und zog daran. Die Behaarte stieß einen erstickten Schrei aus und gab ihn frei. Er zerrte kräftiger, riss die Lippe mit Gewalt auf sich zu. Sie dehnte sich wie warmer Kaugummi, den jemand an einem Sommertag auf den Gehsteig gespuckt hatte. Javier spürte, wie die Haut zu reißen begann. Die Narbengesichtige löste seinen Griff mit einem Schlag auf den Unterarm. Sowohl Javier als auch das behaarte Mädchen stolperten rückwärts.
Er landete auf dem Hintern und seine Zähne klackten schmerzhaft aufeinander. Javier versuchte, sich aufzurappeln, doch bevor es ihm gelang, sprang ihn die Narbengesichtige an und schleuderte ihn zurück auf den Boden. Hinter ihr stöhnte und weinte die Behaarte und klopfte sich mit dem Handrücken auf den Mund. Ihre Lippe blutete, und Javier verspürte einen Anflug wilder Freude. Der verpuffte sogleich, als die Fingernägel der Narbengesichtigen vier blutige Furchen in seine Wange schürften. Ihr Mund öffnete sich, und noch während er ausholte, um sie zu schlagen, setzte sie dazu an, die Zähne in sein verletztes Handgelenk zu graben.
Javier rollte sich zur Seite und wollte ihr ausweichen, aber die Frau hielt seine Beine mit den Füßen fest. Zu spät erkannte er, weshalb. Ihre Zehen mit den doppelten Gelenken konnten ihn wie Hände umklammern. Javier vermutete, dass sich Affenzehen so anfühlen mussten – sie umfassten nicht nur den
Weitere Kostenlose Bücher