Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Hotelzimmer aus der viktorianischen Zeit eingerichtet. Dicke Plüschvorhänge verdeckten die zur Lagerhalle ausgerichteten Fenster. Ein großer Kleiderschrank stand in der Ecke. Die einzige Beleuchtung stammte von einem Dutzend flackernder Kerzen auf einem verzierten geschnitzten Tisch. Ein riesiges Bett mit vier Pfosten füllte die Mitte des Raums aus, bedeckt von einer Überdecke und Kissen aus Samt. Während die Jungen unten auf Regalbrettern schliefen, legte die Person, die diesen Raum bewohnte, offenbar sehr viel Wert auf Bequemlichkeit.
Talbot stand neben einem der Bettpfosten. Ich vermutete, dass es sich um sein Zimmer handelte, doch dann richtete sich unsere Aufmerksamkeit auf einen dunklen, versteckten Alkoven. Mit geneigtem Kopf postierte sich Jude neben Talbot.
»Da ihr nun endlich alle hier seid«, sagte Talbot, »wünscht unser Vater euch zu sehen.«
Die Jungen, die mich festhielten, blickten einander halb entsetzt, halb entzückt an. Als wäre dies das erste Mal, dass sie ihren Vater zu Gesicht bekämen.
»Ihr habt es zu einfach gemacht!«, fauchte eine Stimme aus dem dunklen Alkoven. Eine Gestalt bewegte sich, dann erschienen zwei gelb glühende Augen in der Dunkelheit. »Ihr habt mir fast den Spaß verdorben.«
Diese Stimme. Was war bloß mit dieser Stimme? Irgendetwas an ihr gab mir das Gefühl, als würde es mich zerreißen.
Daniels Gesicht wurde aschfahl. Er wich einen Schritt zurück, doch einer seiner Bewacher stieß ihn vorwärts. Kannte auch er die Stimme?
»Ist das ein Spiel?«, fragte ich. »Wer sind Sie? Was wollen Sie von uns?«
»Oh, du warst schon immer eine herrische kleine Göre«, sagte die unheimliche Stimme. »Ich konnte dich und deinen widerlichen kleinen Hund noch nie ertragen. Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie sehr ich deinen Gesichtsausdruck genossen habe, als du den Hund tot auf eurer Veranda gefunden hast? Es hat fast so viel Spaß gemacht, wie ihm die Kehle aufzureißen.« Der Mann lachte und trat aus dem Schatten. Er hatte blondes, fast weißes Haar und eine große Scharte an seinem Kinn. Auf seinen Lippen lag ein schiefes, bösartiges Lächeln. Er sah fast genauso aus wie früher, als ich noch ein Kind war.
»Du!«, stieß Daniel hervor. Es klang wie ein Fluch. Ich blickte zu ihm. Er war so blass, dass ich glaubte, er würde ohnmächtig werden. Mein Magen zog sich zu einem Knoten zusammen.
»Caleb Kalbi!«, sagte Gabriel. »Was zum Teufel machst du hier?«
»Ich bringe das zu Ende, was ich schon bei Daniels Geburt hätte tun sollen.« Caleb richtete die mörderischen Augen auf seinen Sohn. »Ich hätte dich noch vor deinem ersten Atemzug ersticken sollen.« Mit ausgestreckter Hand trat er auf Daniel zu, als wollte er ihm das Genick brechen.
»Rühren Sie ihn nicht an!«, schrie ich und versuchte,mich aus der Umklammerung meiner Bewacher zu befreien.
Caleb lachte. »Oh, du bist wirklich ein Leckerbissen. Ich sehe jetzt, warum Talbot gezögert hat, dich herzubringen. Ich kann mir gut vorstellen, dass er dich für sich allein haben wollte.«
»Vater«, mischte sich Talbot ein. »Ich habe es dir gesagt: Ich wollte sie unmittelbar zu dir bringen.«
»Ich scherze nur, mein Sohn«, antwortete Caleb. »Nur ein Scherz.«
Mein Blick huschte von Talbot zu Caleb. Hatte Gabriel mir nicht erzählt, dass Caleb hinter dem Angriff auf Talbots Eltern gesteckt hatte? Sollte Talbot das etwa nicht wissen? Wie konnte er Caleb Vater nennen? Wieso sollte er ihm überhaupt helfen? Andererseits war es gut möglich, dass Talbot die ganze Geschichte nur erfunden hatte. Es war schließlich schon eine Lüge gewesen, dass er der letzte Saint Moon war. Nur die Art, wie Gabriel ihn anstarrte – so als ob er einen Geist sähe –, ließ mich zweifeln.
Bevor ich etwas sagen konnte, schnippte Caleb mit den Fingern, und meine Bewacher ließen mich los und stießen mich zu ihm. Ich stolperte vorwärts. Caleb fasste mit einer Hand nach meinem Gesicht und legte seine langen Finger um mein Kinn. Seine Fingernägel bohrten sich in meine Haut. Hinter dem pochenden Pulsgeräusch in meinen Ohren hörte ich gerade noch, wie Daniel seinen Vater anschrie. In meinen Muskeln brannte ein ätzender Schmerz, wie ich ihn noch nie zuvor verspürt hatte.
»Wie reizend, dass du dich verkleidet hast. Das kleineRotkäppchen und der Große Böse Wolf.« Er inspizierte mich von Kopf bis Fuß. Mit den Fingern seiner freien Hand fuhr er an meinem Arm entlang; meine Haut zog sich unter seiner Berührung
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