Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Kiste mit Fundsachen im Büro, aber kaum jemand kommt und fragt nach irgendwas. Ich würd’s einfach in den Müll werfen.«
Ich drehte die Karte noch mal um. In Rose Crest gab es nur eine Handvoll Geschäfte. Keines trug den Namen Depot. Wahrscheinlich war es bloß Müll, dachte ich, doch anstatt die Karte wegzuwerfen, stopfte ich sie in meine Jackentasche.
Daniel zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts.
Fünf Minuten später
Daniel ließ sein Motorrad beim Supermarkt stehen und fuhr mit mir im Corolla. Der Wagen klapperte und stöhnte die wenigen Blocks zur Schule so, als wollte er mitteilen, dass er nicht die Absicht hätte, einen weiteren Winter durchzuhalten. Hoffentlich konnte Daniel ihn noch eine Weile am Leben halten. Da Mom nicht mehr arbeitete und wir zusätzliche Ausgaben für die Haushaltshilfe hatten, war das Geld knapp. Ich parkte wie üblich nahe bei der Pfarrkirche.
Gemeinsam liefen wir über den Schulparkplatz. Danielnippte an seinem Kaffee und gab ein anerkennendes Grunzen von sich. Sein Gesicht hatte lange nicht mehr so finster ausgesehen und sein zotteliges Haar stand mehr ab als gewöhnlich. In drei gierigen Bissen verschlang er den Zimt-Muffin, den ich ihm mitgebracht hatte. Dann räusperte er sich. »Er hat recht«, sagte er. »Was Mr. Day gesagt hat, meine ich. Jemand müsste besondere Fähigkeiten haben, um das alles in so kurzer Zeit zu bewerkstelligen. Vielleicht ein Teenager mit Superkräften?«
Abwehrend hob ich die Hände. »Ich schwöre, ich bin unschuldig. Es sei denn, ich überfalle irgendwelche Läden im Schlaf …«
Daniel grinste flüchtig. Sein Gesicht war ernst, als er den Namen aussprach, von dessen Erwähnung ich mit meinem Humor abzulenken versucht hatte. »Jude. Das klingt naheliegend, findest du nicht?«, fragte Daniel. »Er war gestern Abend in der Stadt. Er kam zu Maryannes Haus und stand wahrscheinlich auch vor James’ Fenster. Es wäre völlig logisch, wenn er dann auch noch zu Day’s gegangen wäre.«
»Wie? So als ob er alle Orte besucht …? Oh.« Ich blieb genau vor dem Haupteingang der Schule stehen und wusste plötzlich, worauf Daniel hinauswollte. Maryannes Haus, James’ Fenster, Day’s Market – an all diesen Orten hatte im letzten Jahr der Wolf die Kontrolle über ihn gewonnen. Er hatte Maryannes erfrorenen Körper zerfleischt, als sie tot auf ihrer Veranda lag. Dann war er durch ein Fenster in unser Haus geklettert, hatte James entführt und es so aussehen lassen, als wäre der Kleine inden Wald verschleppt worden. Danach hatte er Jessicas Leiche in den Müllcontainer hinter dem Supermarkt geworfen, wo Daniel arbeitete. Und das alles, um Daniel als das Monster erscheinen zu lassen.
»Du denkst, dass der Wolf ihn dazu bringt, die Orte seiner Verbrechen wieder aufzusuchen? Aber wieso? Und glaubst du wirklich, dass Jude fähig wäre, diese ganzen Schäden im Day’s Market ganz allein zu verursachen?«
»Verzeihung!«, kläffte eine hohe Stimme hinter uns.
Ich drehte mich ein Stück herum und entdeckte meine ehemals beste Freundin April Thomas. Sie bebte wie ein Cockerspaniel, was typisch für sie war, wenn sie sich aufregte, Angst hatte oder sonst irgendeine Gefühlswallung durchlebte. Eine der Eigenschaften, die ich an ihr immer besonders gemocht hatte.
»Verzeihung, Grace«, sagte sie noch einmal mit zitternder Stimme.
»Ja?«, erwiderte ich und verspürte dabei sehr gemischte Gefühle: Verstimmung, weil sie in den letzten zehn Monaten nichts mit mir zu tun haben wollte, und Freude, weil ich sie tatsächlich meinen Namen sagen hörte.
April sah mich für einen langen Moment an, während sie mit dem Finger an einer ihrer widerspenstigen Locken herumspielte. Ihr Mund verzog sich, als ob sie überlegte, wie sie die wichtige Mitteilung, die sie anscheinend machen wollte, in Worte fassen könnte.
Doch schließlich zuckte sie nur mit den Schultern und bat darum, an mir vorbei durch die Tür gehen zu können. »Ich möchte mich nicht verspäten«, murmelte sie undrauschte an mir vorbei, als ich zur Seite trat. Ich sah zu, wie sie im Gedränge der Schüler in der Eingangshalle verschwand.
Daniel schob mich vorsichtig durch die Tür. »Weißt du, was mich am meisten beunruhigt, Grace?«, fragte er, während wir auf die Schließfächer der Oberstufe zugingen.
»Was denn?« Ich blickte ihn fragend an, dachte dabei aber immer noch an April. Wollte sie mir wirklich etwas sagen?
»Du hast doch eben gemeint, dass Jude wohl nicht fähig wäre,
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