Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
verschränkte wieder die Arme und lehnte sich an ihren Schreibtisch. Der Tisch war übersät mit Perlen, Schmucksteinen, metallenen Glücksanhängern und etwas, das nach einer Angelschnur aussah. Es gab sogar eine kleine Zange und eine riesiges Lupe. »Das glaube ich nicht.«
»Wieso? Er ist mein Bruder.«
»Weil er deinetwegen gegangen ist.«
»Ich weiß.« Plötzlich musste ich die Narbe auf meinem Arm massieren. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass Jude wegen der Dinge gegangen war, die
er
mir angetan hatte.
»Nach dem, was du angerichtet hast, bin ich erstaunt, dass er überhaupt wieder mit dir reden will.« April stemmte die Hände in die Hüften. »Ich würde es nicht wollen.«
»Moment mal, was hab ich denn bitte getan?«, fragte ich.
Die ganze Zeit hatte ich angenommen, dass April mir aus dem Weg ging, weil sie noch immer nicht die Dinge verarbeitet hatte, die sie in jener schrecklichen Nacht in der Pfarrkirche gesehen hatte. Doch offenbar tat sie es deswegen, weil sie mir die Schuld an Judes Verschwinden gab.
»Er hat mir gesagt, dass er gegangen ist, weil du ihn wegen Daniel betrogen hast«, erklärte April. »Daniel hat versucht, deinen Bruder zu töten, und noch immer stehst du auf der Seite dieses dämlichen Blenders. Du und dein Dad, ihr tut immer so, als wäre Daniel ein Engel. Dabei ist er ein Wolf im Schafspelz.« April nahm eine lilafarbene Perle vom Schreibtisch und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich weiß, was Daniel ist, Grace. Und ich weiß, was er Jude angetan hat.«
Blender. Wolf im Schafspelz.
»Wie das denn?«, entgegnete ich. Ich fragte mich, wie viel Jude ihr eigentlich von den Ereignissen erzählt hatte – zumindest nach seiner Version.
»Jude hat ihn immer ein Monster genannt. Erst habe ich geglaubt, dass er das metaphorisch meinte. Dann habe ich gesehen, wie sich Daniel von einem Wolf in einen Menschen verwandelte, als du ihm diesen Dolch aus der Brust gezogen hast. Ich bin nicht total verblödet. Es war ziemlich einfach zu kapieren, dass er ein Werwolf ist.«
»
War «
, korrigierte ich sie. »Er wurde geheilt. Und ich habe ihm die Dinge vergeben, die er getan hat, als er unter dem Einfluss des Wolfs stand. Wäre Jude ebenfalls dazu fähig gewesen, wäre er jetzt nicht da, wo er ist.«
April starrte auf die Perle zwischen ihren Fingern und biss sich auf die Lippe.
»Weißt du denn Bescheid?«, fragte ich zögernd. »Was wirklich mit Jude geschehen ist?«
»Er ist jetzt auch ein Werwolf. Wegen der Dinge, die Daniel ihm angetan hat. Jude sagte, er würde Veränderungendurchmachen. Ich habe es selbst herausgefunden. Du hast mich immer behandelt, als ob ich eine Idiotin wäre oder so was. Du hast mich nie besonders geschätzt und anerkannt. Jude tut das. Er vertraut mir.«
Boah. Vielleicht hatte ich April tatsächlich unterschätzt. Sie kannte die Geheimnisse meiner Familie und stand trotzdem noch hier und redete mit mir? Ich hatte immer geglaubt, dass Judes Interesse an April nur daher rührte, weil er bei ihr seine aufkochenden Emotionen abkühlen lassen konnte. Doch wenn er seit seinem Verschwinden in Verbindung mit ihr stand, hatte ich vielleicht einen falschen Eindruck von ihrer Beziehung. Dabei war der interessanteste Aspekt, dass April Kontakt zu ihm hatte.
»Du hast also seit seinem Verschwinden mit Jude gesprochen?«, fragte ich.
April legte die Perle auf ihre Handfläche und rollte sie mit dem Finger herum.
»Ich weiß, dass er dir wichtig ist, April. Mir ist er auch wichtig. Ich glaube, dass er in Schwierigkeiten steckt. Ich will ihn nur heimbringen.«
»Er hat ein neues Zuhause«, erwiderte April. »Er hat es mir erzählt. Er hat eine neue Familie, die ihm niemals wie du den Rücken zukehren würde. Aber wie er über sie gesprochen hat … Ich weiß nicht, Grace. Sie scheinen gefährlich zu sein. Überhaupt keine richtige Familie. Es würde mich nicht wundern, wenn diese Leute etwas mit dem Überfall auf den Day’s Market zu tun hätten.«
Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Wo war mein Bruder da bloß hineingeraten?
Vorsichtig legte April die Perle zurück auf den Schreibtisch und sah mich dann an. »Ich wusste, dass er in der Stadt war. Aber ich hätte offen gestanden nicht gedacht, dass er hierherkommen würde.«
»Du wusstest also die ganze Zeit, wo Jude sich aufhält, und hast niemandem davon erzählt? Weißt du eigentlich, wie sehr sich mein Vater abrackert, um ihn zu finden?«
»Nicht die ganze Zeit«, antwortete sie. »Er
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