Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
hinabliefen.
»Ist ja schon gut.« Ich ließ meinen Rucksack in der Türöffnung fallen und nahm den Kleinen in meine Arme. »Ist ja gut, Baby James.«
»Bin kein Baby«, stieß James unter seinen Schluchzern hervor. Er war erst zweieinhalb und fing schon an, seinen Kosenamen abzulehnen.
»Du hast recht. Du bist ein großer Junge, hmm?«
James nickte und schmiegte sich enger in meine Arme.
»Hast du wieder einen schlechten Traum gehabt?«
»Jaah.« Er zitterte.
»Ist ja gut.« Ich rollte mich neben ihm in dem winzigen Bettchen zusammen und fuhr mit den Fingern durch seine braunen Locken. »Alles ist gut. Ich bin bei dir. Ich beschütze dich. Versprochen.«
James lächelte durch seine Tränen hindurch und tätschelte mein Gesicht. Nach ein paar Minuten wurde seine Atmung ruhig und gleichmäßig. Seine Augen fielen zu. Dann sank er in den Schlaf, wobei er eine Handvoll meiner Haare fest umklammert hielt.
Ich sah zu, wie sich seine Brust im Schlaf hob und senkte, und dachte an die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden. Ich wusste, dass etwas Schreckliches meine kleine Welt in Stücke reißen wollte. Die Verbrechen der Großstadt hatten den Weg in meinen Heimatort gefunden. Jude war hier gewesen und hatte unseren kleinen Bruder durch seine silbrig glänzenden Augen beobachtet. Ich kannte Judes Absichten nicht und wusste auch nicht, welche Verbindung es von den Ereignissen bei Day’s oder in der Schule zu ihm gab. Doch all dies fühlte sich an, als ob jeden Moment der Himmel einstürzen könnte.
Ich erinnerte mich an Daniels Worte. Er glaubte, dass ich eine Heldin sein könnte. Mehr als alles andere wünschte ich, dass er recht hatte – dass ich fähig war, das Versprechen einzulösen, das ich James gerade gemacht hatte. Ich wünschte mir wirklich, dass ich in der Lage wäre, alle meine Lieben zu beschützen.
Ich sah zu meinem Rucksack in der Türöffnung und erinnerte mich an das Bewerbungsformular für Trenton. James schnarchte zufrieden neben mir, sah unschuldig und hilflos aus. Wie wäre es ihm ergangen, wenn ich nicht hier gewesen wäre, um seine Tränen zu trocknen?
Dann wurde es mir mit einem Mal klar: Selbst wenn es mir gelingen sollte, April und Katie auszustechen, selbstwenn Daniel und ich zusammen in Trenton angenommen würden, konnte ich doch nicht gehen.
Jede Chance nach Trenton oder überhaupt auf ein College zu gehen, war mit dem Tag zerstört worden, an dem Jude fortgegangen war. Wie wäre es dann wohl, wenn Dad ständig nach ihm suchte und sich Mom weiter in ihrem manisch-depressiven Zustand befände? Und würde es ihr dann nicht noch viel schlechter gehen, wenn ich ein Studium anfinge? Eine halbtags arbeitende Haushaltshilfe war nicht das Gleiche wie eine Mutter oder eine Schwester. Wie könnte ich Charity mit alldem allein zurücklassen? Sie war die Schlaue in unserer Familie – sie machte praktisch nichts anderes als Hausaufgaben – und es wäre nicht fair, ihre Zukunft zu ruinieren, wenn ich mich so wie Jude einfach aus dem Staub machte.
Trenton war alles, was Daniel wollte, und alles, was ich nicht haben konnte.
Ich hasste Jude dafür, dass er es mir weggenommen hatte.
KAPITEL 6
Wie wir einst waren
Samstagmorgen
Von einem verkrampften Schlaf in James Kinderbettchen steif und krumm erwachte ich gegen halb fünf am Morgen. In der Hoffnung, dass er noch ein paar Stunden weiterschlief, schlich ich mich aus seinem Zimmer und kroch in mein eigenes Bett. Ich wälzte mich herum, und so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte den Traum nicht verscheuchen, von dem ich zuerst wach geworden war.
Das Komische war, dass ich von einer glücklichen Erinnerung geträumt hatte: von dem Wochenende vor ungefähr fünf Jahren, als Daniel, Jude und ich mit Dad in der Nähe von Großvater Kramers Teich geangelt hatten. Daniel lebte zu dieser Zeit bei uns. Ich hatte geträumt, wie er sich über mich lustig machte und ich jede Sekunde seiner Aufmerksamkeit begierig aufsog. Wie Jude erklärte, er sei glücklich, dass Daniel nun zu unserer Familie gehörte. Und wie er hoffte, dass das für immer so bliebe. Ich hatte geträumt, wie die Dinge einst gewesen waren und wie sie für immer hätten sein sollen. Nun kam mir alles wie der schrecklichste Albtraum vor.
Schließlich stieg ich aus dem Bett und ging zu dem Stapel Hartfaserplatten, die neben meinem Schreibtisch lagen. Vorsichtig zog ich ein Bild nach dem anderen heraus, bis ich das fand, an dem ich an jenem Abend gearbeitet hatte,als
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