Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
schickt mir ab und an mal eine E-Mail. Aber ich kann sie nicht beantworten, meine Nachrichten sind unzustellbar und kommen direkt wieder zu mir zurück.«
Ich nickte. Ich hatte Jude jeden Tag eine E-Mail an seine Schuladresse geschickt und ihn gebeten, nach Hause zu kommen. Nach einer Weile hatte ich es aufgegeben, da alle meine Mails zurückkamen. »Und hat er dir gesagt, wo er ist?«
»Nein, er hat nie ein Wort über seinen Aufenthaltsort verloren. Aber ich glaube, dass ich ihn aufgespürt habe.«
Unfreiwillig schossen meine Augenbrauen in die Höhe. »Du weißt tatsächlich, wie man E-Mails zurückverfolgen kann?«
»Nein. Aber Blog-Einträge. Sieh mal hier.« April setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl und fummelte an der Computermaus herum. Der Bildschirm erwachte zum Leben und sie loggte sich ins Internet ein. »Abgesehen von den E-Mails erhielt ich vor ein paar Monaten ganz unregelmäßige und anonyme Einträge auf meinem Blog. Nach einer Weile wurde mir klar, dass es Jude war.«
»Deinen Blog?« Jude hatte sich vor seiner Familie versteckt,aber anscheinend die Zeit gefunden, Einträge auf Aprils Blog zu hinterlassen. Ich hatte nicht mal gewusst, dass sie einen Blog hatte.
»Ich mache Schmuck.« April deutete auf das Durcheinander auf ihrem Schreibtisch. »Und verkaufe ihn über meinen Blog.« Sie zeigte auf ihren Computer. Auf dem Bildschirm waren pinkfarbene Wirbel zu sehen, die um ein Banner mit dem Text
April Showers Modeschmuck
kreisten. Außerdem Fotos von Ringen, Halsketten und Armbändern.
»Ich hatte ja keine Ahnung.« Doch als ich jetzt darüber nachdachte, fiel mir ein, dass April jedes Mal, wenn ich ihr begegnete, eine neue Halskette oder ein neues Armband zu haben schien. Sie waren wunderschön. »Ich schätze, so was passiert wohl, wenn man aufhört, miteinander zu reden.«
April zuckte mit den Schultern. »Egal, wie gesagt bekam ich diese anonymen Einträge auf meinem Blog, und alle schienen von derselben Person zu kommen. Beispielsweise, als ich ein Bild von dieser Halskette geposted habe.« Sie klickte auf das Bild eines dreieckigen Anhängers. Es war dieselbe Kette, die sie jetzt gerade trug. »Hier ist es.« Sie scrollte ein wenig herunter und deutete mit der Maus auf den Eintrag. »Das kann von niemand anderem als Jude kommen. Und es ist das Letzte, was ich von ihm gehört habe.«
Ich beugte mich über ihre Schulter und las den Eintrag.
Namenlos schrieb:
Wunderschön. Das sieht genauso aus wie der Walnussbaum an meinem alten Haus. Manchmal wünschte ich, ich könnte ihn von der Schaukel auf der Veranda aus wieder sehen. Von da, wo wir immer zusammengesessen haben. Aber das wird wohl nie wieder passieren, oder? Nicht nach dem, was sie mir angetan haben.
Mein Herz verkrampfte sich in der Brust und ich wandte den Blick von diesen Worten ab. Die ersten beiden Zeilen hatten wie der alte Jude geklungen, doch der Rest tat zu weh, als dass ich ihn noch mal lesen wollte.
»Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, aber bei dem Eintrag ist ein Zeitpunkt verzeichnet. Drei Uhr nachts, am fünfundzwanzigsten September. Das ist drei Wochen her.« Ich hörte das Klicken der Maus. Als ich wieder auf den Bildschirm blickte, hatte sie eine andere Website aufgerufen. »Das hier ist meine Besucherliste. Sie zeigt mir, wo die Leute herkommen, die meine Seite besuchen.« Sie klickte etwas anderes an und eine Liste mit Zeiten, Daten und Orten wurde sichtbar. »Hieran kann man erkennen, dass die einzige Person, die meinen Blog um drei Uhr nachts am fünfundzwanzigsten September besucht hat, hier in der Stadt gewesen ist.«
»Wow, kann man das wirklich so genau bestimmen?« Ich spielte mit meinem Mondsteinanhänger. Er pulsierte mit einer warmen Schwingung. Für mich bedeutete das Hoffnung. Dann ließ ich den Anhänger wieder los und seufzte. »Aber Jude könnte sich überall aufgehalten haben. Die Stadt ist sehr groß.«
»Oh, es kommt noch besser. Ich kann das noch viel genauer orten und sogar die IP-Adresse des Besuchers und den verwendeten Server erkennen.«
»Im Ernst?« Anscheinend gab es bei April inzwischen viele Dinge, von denen ich nichts wusste. Früher hatte sie null Interesse an Computern gehabt und jetzt sprach sie davon, IP-Adressen und Server aufzuspüren? »Wie hast du das alles gelernt?«
»Du kennst doch Avery Nagamatsu, Mias älteren Bruder? Der ein Studium als Software-Programmierer macht?«
Ich nickte.
»Ich bin im Sommer ein paarmal mit ihm auf die Partys der
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