Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Jude weggelaufen war. Es war ein Bild von Jude, das von eben dem Angeltrip stammte. Ich war während der Arbeit an diesem Bild am Schreibtisch eingeschlafen und ein paar Stunden später von den Schreien meiner Mutter aufgewacht. Sie hatte Judes Nachricht, mit der er sein Weggehen verkündete, auf dem Tisch gefunden. Seitdem war ihr psychischer Zustand nicht mehr stabil.
Ich legte das Bild auf meinen Schreibtisch und sah es mir genauer an. Der Hintergrund war schon vorhanden. Für Jude hatte ich die Grundfarben bereits grob angelegt. Ich hatte eine neue Technik benutzt, die Daniel mir beigebracht hatte, und versucht mich abzulenken, während ich darauf wartete, dass das Krankenhaus etwas Neues über Daniels Zustand verlauten ließ. Als klar wurde, dass Jude sich abgesetzt hatte, konnte ich das Projekt nicht zu Ende bringen. Vielleicht hatte ich bloß auf den richtigen Moment gewartet. Auf seine Rückkehr.
Ich öffnete die Schreibtischschublade und nahm einen Stapel Fotos heraus, der von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Ich fand die Aufnahme von Jude, die ich als Vorlage benutzt hatte, und legte sie oben auf das Bild. Dann blätterte ich weiter durch die Fotos, bis ich das fand, wonach ich suchte. Ich zog die Aufnahme aus dem Stapel und hielt sie für eine Weile in der Hand.
Auf dem Foto saßen Daniel, Jude und ich auf einem Felsbrocken am Teich. Unser halb verzehrtes Mittagessen hatten wir auf dem Schoß liegen, unsere Arme einander auf die Schultern gelegt. Jude machte mit einer Hand eine Geste – drei ausgestreckte Finger. Ich hatte es fast vergessen.Es war das Zeichen, das wir in jenem Frühling für unsere kleine Truppe ersonnen hatten:
Für immer drei Musketiere
.
Gestern Abend hatte ich entschieden, dass ich wegen der ganzen Ereignisse niemals würde aufs College gehen können. Gestern Abend hatte ich gedacht, dass ich Jude hasste. Jetzt kannte ich den wirklichen Grund, der mich daran hinderte, mein Zuhause zu verlassen: Wenn Jude zurückkäme, so hatte ich mir geschworen, würde ich da sein, um ihm auf die gleiche Art zu helfen, wie ich Daniel geholfen hatte.
Alle versuchten mir auszureden, mich auf die Suche nach Jude zu machen. Als ob sie genau wüssten, dass ich exakt dies vorhätte. Vielleicht wussten sie ja auch, dass es genau das war, was ich tun
sollte
?
Noch hatte ich nicht genügend Kontrolle über meine Fähigkeiten, um mich auf einen Kampf mit jemandem einzulassen. Das hatte die Szene mit Pete und seinen Kumpels am Tag zuvor mehr als bestätigt. Allerdings bedeutete das keineswegs, dass ich nicht versuchen könnte, Jude zu finden. Noch immer konnte ich ihm helfen. Wenn ich ihn vielleicht dazu bewegen könnte, nach Hause zu kommen? Und dann herausfände, wie ich ihm helfen könnte, sein Leben in Ordnung zu bringen? So, wie ich es bei Daniel getan hatte. So, wie ich es versprochen hatte. Dann würde Dad vielleicht nicht mehr herumfahren, Mom ihr Gleichgewicht wiedererlangen und meine Familie vielleicht wieder so werden, wie sie in meinem Traum gewesen war. So, wie wir uns alle wünschten, dass sie für immer bliebe.
Und dann könnte ich vielleicht, aber nur vielleicht, langsam darüber nachdenken, aufs College zu gehen und eine eigene Zukunft zu haben.
KAPITEL 7
Was April weiß
Samstagnachmittag
Ich stand draußen vor der alten Tür, hatte die Hand auf das wettergegerbte Holz gelegt und war nicht sicher, ob ich den Mut hatte, diesen Plan durchzuführen. Etwas, das am Tag zuvor geschehen war, war mir den ganzen Morgen durch den Kopf gegangen und hatte mich in diese Richtung gedrängt. Bis ich jetzt hier vor dieser Tür stand. Ich wusste jedoch nicht, ob ich für die Antworten bereit war, die ich vielleicht bekommen würde, wenn jemand die Tür öffnete.
Ich weiß, ich hatte versprochen, nicht auf eigene Faust nach Jude zu suchen. Ich hatte ja auch gar nicht vorgehabt, es allein zu tun. Ich wollte es mit Daniel machen. Na ja, zumindest war dies der ursprüngliche Plan gewesen.
Allerdings war Daniel nicht ans Telefon gegangen. Ich hatte ihn dreimal angerufen, ohne Erfolg. Ich hatte mich gefragt, ob sein Handy vielleicht weitaus mehr demoliert war, als wir angenommen hatten, und nun womöglich nicht mehr funktionierte. Also beschloss ich, zu ihm zu gehen und ihm von meiner Idee zu erzählen.
Als ich schon fast bei ihm angekommen war, rief er mich schließlich zurück.
»Ich bin krank«, sagte er. Seine Stimme klang fern.
»Das liegt wahrscheinlich daran, weil du nicht
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