Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
wohl gebraucht, um es zu verdienen? Doch wichtiger war, wie lange war der Karton schon in meinem Zimmer? War Daniel bereits gegangen?
Ich lief die Treppe hinunter zu Dads Arbeitszimmer und hoffte, dass er wusste, wohin Daniel vielleicht gehen würde. Das Zimmer war leer. Ich begriff, dass es trotz Ferien ein Werktag war. Ich lief in die Küche, wo Mom am Tisch saß und Rechnungen bezahlte.
»Wo ist Dad?«, schrie ich sie förmlich an. »Ist er in der Pfarrkirche?«
Mom zog die Augenbrauen hoch. »Er und Don sind zum Obdachlosenheim gefahren.«
»Wie bitte? Ich dachte, das wollten sie heute Abend machen.«
»Don bekam einen Anruf, er muss heute Abend im Supermarkt arbeiten. Er wollte unbedingt dabei sein, wenn seine Weihnachtsschinken verteilt werden, und da hat Dad ihn schon früher abgeholt.«
»Wann sind sie losgefahren?«
»Vor zehn Minuten.«
Arrgghh! Ich würde ihn in den nächsten zwanzig Minuten nicht erreichen können. »Würde es uns umbringen, wenn wir ein paar Handys anschafften?!«, brüllte ich und warf die Arme in die Luft.
»Grace!« Mom ließ ihr Scheckbuch auf den Tisch fallen.
»Im Ernst. Das Leben könnte so viel einfacher sein.« Ich nahm die Schlüssel des Minivans vom Haken und lief zur Garagentür.
»Ich muss Charity von der Schule abholen!«, rief Mom.
Doch ich lief weiter.
Ich fuhr in Richtung Oak Park. Zu dumm, dass ich keine übernatürlichen Kräfte besaß, dann hätte ich einfach Daniels Geruch folgen können. Ich hatte den halben Weg zu Maryanne Dukes Haus zurückgelegt, als mir eine innere Stimme sagte, dass er nicht mehr in seiner Wohnung war. Ich wendete unerlaubt und fuhr in RichtungMain Street. Er hatte geschrieben, dass er Einkäufe machen wollte. Vielleicht war er ja im Supermarkt.
Ich parkte den Minivan hinter einem Motorrad. War es dasselbe, auf dem wir in jener Nacht in die Innenstadt gefahren waren? Wenn ja, so bedeutete das, dass Daniel versuchen würde, möglichst weit weg zu kommen, so weit, dass er nicht mal eben zu Fuß laufen könnte. Weit genug, dass ich ihn nicht finden könnte.
Ich rannte in den Laden, begegnete am Blumenstand ein paar Leuten von der Schule, die ihre Sträußchen für den Tanzabend kauften, und lief direkt zu Mr Day an die Kasse.
»Haben Sie Daniel gesehen?«, fragte ich und unterbrach Lynn Bishop, die ein Sträußchen rote Rosen und eine Dose Haarspray kaufte.
Mr Day sah von seiner Kasse auf. »Er hat eben gekündigt, Liebes. Ich glaube, er will die Stadt verlassen.«
Ich fluchte – und das nicht gerade leise.
Mr Day räusperte sich. »Vielleicht ist er noch hinten. Ich hatte ihn gebeten …«
Doch ich rannte schon auf die Tür zu, auf der ›Personal‹ stand. Im anschließenden Raum war niemand, doch ich bemerkte eine weitere Tür, die auf den Parkplatz hinausführte. Ich schaffte es gerade nach draußen, um einen behelmten Motorradfahrer an mir vorbeirauschen zu sehen.
»Daniel!«, schrie ich, doch meine Stimme war nichts im Vergleich zum Röhren der Maschine, als der Fahrer Gas gab. »Geh nicht!«
Die Welt drehte sich und brach über mir zusammen.Ich konnte nicht mehr atmen. Meine Knie wurden weich. Ich wünschte mir etwas, an dem ich mich festhalten konnte, um nicht hinzufallen.
Doch anstatt auf das Pflaster hinabzusinken, wurde ich plötzlich hochgezogen. Starke Arme umfassten mich. Warmer Atem verfing sich in meinen Haaren.
»Geh nicht«, sagte ich.
»Ich bin hier, Grace«, sagte er. »Ich bin hier.«
Ein paar Minuten später
Daniel hielt mich fest, bis ich wieder atmen konnte. Das Einzige, was uns davor schützte, von der Main Street gesehen zu werden, war ein stinkender Müllcontainer, doch es war mir egal. Ich legte meine Arme um Daniels Hals und küsste ihn.
Er erwiderte meinen Kuss. Seine Lippen waren fest und stark, doch gleichzeitig nachgebend und weich. Er zögerte, doch beschützte mich auch.
Ich legte meine Hände um den warmen Steinanhänger seines Halsbands und hielt ihn fest gegen seinen Hals gedrückt, während ich ihm in die Augen sah und sagte: »Ich liebe dich.«
Daniels Hände waren um meinen Rücken geschlossen, er drückte mich fest an sich. Er küsste mich leidenschaftlich. Meine Knie wurden noch weicher als zuvor.
Sachte lehnte er sich ein Stückchen zurück und runzelte die Stirn. »Weißt du, was das bedeutet?«
»Ja. Es bedeutet, dass ich diejenige bin, die dich retten kann.«
Er wich zurück. »Nein, Grace. Ich werde dich niemals bitten, das zu tun. Ich kann dich unmöglich
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