Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
den Nebel hindurch konnte ich weitere weiße Figuren ausmachen, die alle so majestätisch dastanden wie die erste. Kleine Scheinwerfer, die ihre Köpfe von oben beleuchteten, ließen sie im schwindenden Abendlicht geradezu göttlich erscheinen.
Ich holte tief Luft. »Der Garten der Engel. Ich habe mal jemanden von diesem Ort reden gehört, doch ich wusste nicht, wo er sich befindet.« Ich lief weiter den Weg entlang zu der nächsten hoheitsvollen Statue. Diese war eine Frau mit langen, wunderschönen Flügeln, die wie Rapunzels Locken von ihrem Rücken herabhingen.
Daniel folgte mir, als ich von Engel zu Engel wandelte. Einige sahen alt und ehrwürdig aus, andere waren kleine Kinder mit erwartungsvollen Gesichtern, doch auch sie waren schlank und elegant wie der Rest. Am Wegesrand stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um die Flügel eines weiteren Engels zu berühren.
Daniel lachte. »Du gehst wohl nie vom Weg ab, oder?« Er lief dicht an mir vorbei und berührte meinen Rücken leicht mit dem Arm.
Ich sah auf meine Zehen hinunter, mit denen ich auf dem Rand des Kieswegs stand, und kippte auf den Absätzen vorsichtig nach hinten. Wenn er doch bloß gewusst hätte, wie unvollkommen ich mich die meiste Zeit fühlte. »Wird das Leben dadurch nicht einfacher?«
»Wird das Leben dadurch nicht langweiliger?«, gab er zurück, schenkte mir ein verschmitztes Grinsen, schlüpfte zwischen zwei Statuen hindurch und verschwand im Nebel.
Ein paar Augenblicke später tauchte er auf einem Pfad bei einer weiteren Engelsstatue wieder auf, die größer als alle anderen war.
»Dieser Ort wurde zur Erinnerung an Carolyn Bordeaux errichtet«, sagte Daniel, dessen Stimme zu mir herüberklang.»Sie war reich und geizig und verbarg ihr Vermögen vor anderen, bis sie eines Tages, als sie schon über siebzig war, aus keinem besonderen Grund einen streunenden Hund bei sich aufnahm. Sie erzählte den Leuten, der Hund sei ein verkleideter Engel, der ihr offenbart habe, dass sie anderen Menschen helfen solle. Danach verwendete sie den Rest ihres Lebens und Vermögens für die Unterstützung der Bedürftigen.«
»Wirklich?« Ich trat näher auf ihn zu.
Daniel nickte. »Ihre Familie glaubte, dass sie verrückt geworden sei. Sie wollten sie sogar einweisen lassen. Doch in dem Augenblick, als sie starb, erklang in ihrem Schlafzimmer ein Chor aus wunderschönen Stimmen, die aus dem Jenseits zu kommen schienen. Ihre Verwandten dachten, dass jetzt die Engel gekommen seien, um Carolyns Seele in Empfang zu nehmen, doch dann wurde ihnen klar, dass sich die Kinder aus dem Waisenhaus, in dem sie mitgeholfen hatte, um das Haus herum aufgestellt hatten und sangen. Die Familie Bordeaux war davon so gerührt, dass sie Carolyn diese Gedenkstätte errichtete. Es heißt, jeder Engel steht für einen Menschen, dem sie geholfen hat. Es gibt Hunderte von ihnen über den Garten verteilt.«
»Wow. Woher weißt du das alles?«
»Es steht auf der Tafel da drüben.« Daniel grinste, verschlagen wie immer.
Ich lachte. »Da bin ich dir ja ganz schön auf den Leim gegangen. Ich dachte schon, du wärst so eine Art Intellektueller geworden, mit diesem ganzen Wissen überseltsame Lokalhistorie und den Zitaten frommer Gelehrter.«
Daniel neigte den Kopf. »Da, wo ich war, hatte ich viel Zeit zum Lesen.«
Zwischen uns herrschte gespanntes Schweigen.
Wollte
Daniel, dass ich ihn fragte, wo er die letzten drei Jahre gewesen war? Ich wollte es sehr gern, schon seit dem ersten Moment, in dem ich ihm wieder begegnet war. Diese Frage war genau so wichtig wie herauszufinden, was zwischen ihm und Jude geschehen war. Ohne Zweifel hingen die Antworten zusammen. Ich dachte mir, ich sollte ruhig die Gelegenheit beim Schopfe packen – um endlich die nötigen Antworten zu erhalten, sodass ich die Dinge wieder in Ordnung bringen konnte.
Ich krampfte die Hände zusammen, krallte mir die Fingernägel in die Handflächen, und noch bevor ich es mir wieder anders überlegen konnte, fragte ich ihn: »Wo bist du hingegangen? Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«
Daniel seufzte und blickte zu der großen Statue neben ihm. Dieser Engel war ein junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig, in Begleitung eines steinernen Hundes, der neben ihm saß und aufpasste. Der Hund war groß und schlank wie der Engel, seine dreieckigen Ohren berührten den Ellbogen des Mannes. Er hatte eine längliche Schnauze, und sein buschiges Fell und der Schwanz schienen sich in den verworrenen Falten des Engelsgewands
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