Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
zu verlieren.
»Ich ging zurück in den Osten. Runter in den Süden. Raus in den Westen. So ziemlich jedes Richtungsklischee,das du dir vorstellen kannst.« Daniel ging in die Hocke und betrachtete den Hund. »Ich traf ihn draußen im Westen. Er gab mir den hier.« Mit der Fingerspitze strich er über seinen schwarzen Steinanhänger. »Er sagte, er würde mich beschützen.«
»Der Hund oder der Engel?«, trieb ich Daniel an. Ich hätte eigentlich wissen sollen, dass er mir keine direkte Antwort auf die Frage nach seinem Verbleib geben würde.
Daniel strich sich das struppige Haar aus dem Gesicht. »Ich habe den Mann getroffen, den diese Statue darstellt. Gabriel. Ich habe viel von ihm gelernt. Er sprach über Mrs Bordeaux und die Dinge, die sie für andere getan hat. Er war derjenige, der mich dazu brachte, dass ich wieder hierherkommen wollte. Dass ich diesem Ort nahe sein wollte … und anderen Dingen.« Daniel erhob sich und nahm einen tiefen Atemzug von der dunstigen Luft. »Wenn ich hierherkomme, fühle ich mich immer high.«
»Du bist also immer hergekommen, um high zu werden?«, mutmaßte ich.
»Tja, sieht so aus.« Daniel lachte und setzte sich auf eine Steinbank. Instinktiv wich ich einen Schritt vor ihm zurück. »Aber das mache ich nicht mehr.« Er trommelte mit den Fingern auf seinem Bein. »Ich bin schon seit Langem clean.«
»Das ist gut.« Ich ließ meine Hände sinken und versuchte, angesichts seines Geständnisses locker und ungerührt auszusehen. Ich wusste, dass er kein Heiliger war. Ich wusste, dass sein Leben schon von düsteren Wolken überschattet gewesen war, noch bevor er verschwand.Nachdem er mit seiner Mutter nach Oak Park gezogen war, hatte ich ihn in den folgenden sechs Monaten nur dreimal getroffen – genau die sechs Monate, die schließlich zu seinem endgültigen Verschwinden geführt hatten. Das letzte Mal hatte ich ihn gesehen, als die Oak Park Public Highschool meinen Dad anrief, weil Daniel wegen einer Schlägerei der Schule verwiesen worden war. Sie hatten seine Mutter nicht erreichen können, und so mussten Dad und ich ihn nach Hause bringen. Doch in gewisser Weise war es für mich so, als hätte mein eigener Bruder Drogen genommen oder Schlimmeres getan.
Ich betrachtete die große Statue von Gabriel, dem Engel, der auf uns hinuntersah. Der Blick seiner gemeißelten Augen schien auf Daniels Kopf zu ruhen. Die Neugier, auch diesmal einem straffen Band ähnelnd, zog mich neben ihn auf die Bank. »Glaubst du an Engel? An richtige?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich glaube nicht, dass sie Flügel aus Federn haben oder so. Ich glaube, es sind Menschen, die Gutes tun, ohne selbst etwas dafür zu erwarten. Menschen wie dein Vater … und du.«
Ich blickte in seine schimmernden Augen. Daniel streckte die Hand aus, so als ob er mir über die Wange streicheln wollte – kleine Funken prickelten unter meiner Haut –, doch dann zog er die Hand zurück und hustete.
»Du bist wirklich total verrückt, wenn du mich fragst.«
»Verrückt?« Meine Wangen fühlten sich noch heißer an.
»Ich weiß nicht, wie ihr alle das macht«, sagte er. »WieMaryanne Duke. Sie hatte nichts und hat trotzdem versucht, Leuten wie mir zu helfen. Ich glaube, sie war ein Engel.«
»Bist du deswegen zur Trauerfeier gekommen? Wegen Maryanne?« Und nicht meinetwegen?
»Ich habe bei ihr gewohnt, als es mit meinen Eltern immer schlimmer wurde. Wenn ich nicht bei euch war, war ich bei ihr. Sie war immer für mich da, wenn andere es nicht waren.« Daniel wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Seine Fingernägel waren geschwärzt; es sah aus wie Tinte. »Ich fand, dass ich ihr die letzte Ehre erweisen sollte …«
»Das habe ich wohl vergessen. Maryanne hat sich um viele Menschen gekümmert.«
»Ja, klar. Ich bin nichts Besonderes oder so.«
»Nein, so habe ich es nicht gemeint … Es tut mir nur leid, dass ich es vergessen habe.« Ich legte meine Hand auf seine Schulter. Er wich zurück, sodass ich gerade nur ein wenig von seinem festen Körper unter dem Stoff seiner Jacke erahnen konnte. »Es war ziemlich schlimm für dich. Ich bin sicher, bei Maryanne hattest du das Gefühl …«
»Geliebt zu werden?«
»Vermutlich. Geliebt zu werden oder immerhin normal zu sein.«
Daniel schüttelte den Kopf. »Manchmal hatte ich fast das Gefühl, geliebt zu werden. Zum Beispiel, wenn Maryanne mir abends eine Geschichte vorlas, oder wenn ich mit deiner Familie zusammen am Tisch saß. Es gehtnichts über ein
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