Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
ein Segen. Das hat er mir gesagt.«
Jude sprang von der Schaukel auf. »Dann ist dieses Monster nicht nur ein Dieb und Mörder, sondern auch ein Lügner.«
»Mörder?« Ich wich zurück und fiel fast von der Veranda. »Ich glaube dir kein Wort. Du bist nur eifersüchtig auf ihn. Du bist eifersüchtig, weil Dad ihm mehr geglaubt hat als dir. Du kannst es nicht ertragen, dass Dad und ich ihn wieder in die Familie aufnehmen wollen. Du schreckst nicht mal davor zurück, mich irgendwelcher verrückten Sachen zu bezichtigen. Wie soll ich dir irgendetwas von diesem Quatsch glauben?«
»Dann frag ihn doch selbst«, erwiderte Jude. »Geh und frag deinen teuren Daniel, was in der Nacht geschah, als er versucht hat, mir die Jacke wegzunehmen. Frag ihn, was er mit dem ganzen gestohlenen Geld gemacht hat. Frag ihn, was wirklich mit den Buntglasfenstern in der Kirche passiert ist. Frag ihn, was er
wirklich
ist.« Jude knallte die Schaukel vor die Wand. »Frag ihn, wie es war, als er mich sterben lassen wollte.«
»Was?« Ich taumelte nach hinten und konnte mich gerade noch am Geländer festhalten. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand mit voller Wucht vor die Brust geschlagen. »Nein …«
Jude sprang von der Veranda und lief die Auffahrt hinunter.
»Jude!«, schrie ich ihm nach. Doch er blieb nicht stehen. Er lief so schnell weiter, dass ich ihm nicht folgen konnte. Dann verschwand er in der Nacht.
KAPITEL 16
Ungelöst
Gegen zwei Uhr morgens
Ich hatte früher mal diese Bluse. Sie war smaragdgrün mit glatten, teuer wirkenden Knöpfen. Obwohl sie ein Sonderangebot war, hatte Mom gesagt, sie koste zu viel. Doch ich wollte sie unbedingt haben und machte mit Mom einen Deal: Zwei Monate lang verzichtete ich auf die Samstagabende und babysittete, sodass ich ihr das Geld zurückzahlen konnte. Ich hatte sie mir gerade rechtzeitig verdient, um sie auf der Party zu Pete Bradshaws sechzehntem Geburtstag tragen zu können. Fünf verschiedene Jungs wollten mit mir tanzen. Später am Abend entdeckte ich einen dünnen Faden, der vom Ärmel herabhing. Ich versuchte, ihn in die Manschette zu stopfen, doch er fiel immer wieder heraus. Jedes Mal schien er ein Stück länger geworden zu sein, und so zog ich schließlich daran und versuchte, ihn abzureißen. Doch als ich das tat, löste sich der Saum des Ärmels bis zur Schulter hin ab und ich stand da mit einem klaffenden Loch in meiner neuen Lieblingsbluse.
Genau so empfand ich gerade mein Leben. Ich zog oder drückte oder riss oder zerrte zu heftig, und alles schien sich an den Säumen aufzulösen. Genau genommen löste sich gerade mein Bruder auf, und ich wusste nur, dass es mein Fehler war. Und hatte keine Ahnung, wieich es wieder in Ordnung bringen konnte. Im Vergleich zu den meisten Teenagern war Jude sonst immer ein Heiliger. Was konnte ihn also veranlasst haben, solch schlimme Lügen über Daniel zu verbreiten?
Jude musste
lügen
, versuchte ich mir immer wieder zu sagen.
In alle Richtungen streute er irgendwelche Anschuldigungen und hoffte, dass eine davon auf fruchtbaren Boden fiel. Die Dinge, die er sagte, konnten einfach nur Lügen sein.
Wie hätte ich sonst so für Daniel empfinden können, wie ich es tat?
Jude hatte April erzählt, mein Vater wisse ganz genau, was Daniel getan habe. Doch Dad hätte Daniel niemals in unsere Nähe gelassen, wenn Judes Lügen tatsächlich zutrafen. Außerdem wusste ich, dass er Maryanne nichts angetan – er hatte sie geliebt! – und auch James nicht entführt hatte. Ich war doch selbst mit Daniel im Wald gewesen. Er hatte James gerettet. Er war ein Held. Er dachte vielleicht nicht so, und Jude ganz sicher auch nicht. Doch ich wusste es. Und wenn ich erst mal die ganze Wahrheit kannte, so könnte ich Daniel helfen, zu dem Menschen zu werden, den ich in ihm sah, dem Menschen, den ich liebte. Dann würde auch Jude es erkennen, und sie könnten wieder Freunde sein, sogar Brüder. Ich könnte es immer noch in Ordnung bringen.
Doch als ich im Bett lag, fühlte es sich an, als ob ich in einem Meer aus Daniels und Judes Worten hin und her triebe.
›Ich bin kein Held.‹ ›Niemand kann mich lieben.‹
›Monster, Lügner, Dieb, Mörder.‹
Monster. Jude hatte Daniel ein Monster genannt.
›Urbat? Hund des Himmels? Schlag’s doch mal nach, Grace.‹
Ich sprang aus dem Bett hinüber zu meinem Schreibtisch, riss das Kabel aus dem Telefon und steckte es in meinen Computer. Meine Eltern hatten mir Dads alten Rechner unter der
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