Urbi et Orbi
an Ihrer Stelle würde in Pension gehen. Ende der Woche sollten Sie nicht mehr hier sein.«
»Ich habe meinen Schreibtisch schon ausgeräumt.«
»Ich habe Ihre Bemerkungen vom Frühstück keineswegs vergessen.«
»Das freut mich. Ich möchte nämlich, dass Sie meine Worte wiederholen, wenn wir beide vor unserem Richter stehen.«
Er hätte dem vorlauten Italiener am liebsten eine runtergehauen. Doch er fragte nur: »Ist das Schließfach geöffnet?«
Der alte Mann nickte.
Valendrea wandte sich an Ambrosi: »Warten Sie hier.«
Jahrzehntelang hatten andere über die Riserva verfügt. Paul VI . Johannes Paul II . Clemens XV. und sogar dieser nervtötende Archivar. Doch damit war Schluss.
Valendrea stürmte in den Raum und riss die Schublade auf. Da stand die Holzschatulle. Er nahm sie heraus und trug sie zum selben Tisch, an dem vor Jahrzehnten Paul VI. gesessen hatte.
Er klappte den Deckel auf und fand zwei ineinander gefaltete Blatt Papier. Das eine, unübersehbar ältere, war der erste Teil des dritten Geheimnisses von Fatima – von Schwester Lucia geschrieben. Auf der Rückseite sah man den Vatikanstempel, der dort bei der Veröffentlichung im Jahr 2000 angebracht worden war. Das zweite, neuere Blatt, enthielt Hochwürden Tibors Übersetzung aus dem Jahr 1960 und war ebenfalls mit einem Stempelaufdruck versehen.
Doch in der Schatulle sollte noch ein weiteres Blatt liegen.
Hochwürden Tibors Faksimile neueren Datums, das Clemens persönlich in die Schatulle gelegt hatte. Wo war es? Valendrea war hier, um das Problem ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Um die Kirche zu schützen und sich selbst die geistige Gesundheit zu bewahren.
Doch das Blatt war verschwunden.
Er schoss aus der Riserva und stürzte sich auf den Archivar. Er packte den alten Mann bei seiner Soutane. Eine Riesenwut schoss in ihm hoch. Der Kardinal sah ihn erschreckt an.
»Wo ist es?«, fauchte Valendrea ihn an.
»Was … was … meinen Sie?«, stammelte der alte Mann.
»Reizen Sie mich nicht noch mehr. Wo ist es?«
»Ich habe nichts berührt. Das schwöre ich Ihnen, so wahr mir Gott helfe.«
Valendrea sah, dass der Mann die Wahrheit sagte. Es musste jemand anderer gewesen sein. Valendrea ließ den Archivar los, und dieser trat zurück, offensichtlich von dem Angriff verängstigt.
»Raus hier«, fuhr Valendrea ihn an.
Der Archivar verzog sich eilig.
Eine schreckliche Erinnerung überkam Valendrea. Jener Freitagabend, als der Papst zugelassen hatte, dass er die Hälfte der von Tibor gesandten Dokumente vernichtete.
» Ich wollte, dass Sie wissen, was Sie erwartet, Alberto. «
» Warum haben Sie mich nicht daran gehindert, das Dokument zu verbrennen? «
» Das werden Sie schon sehen. «
Als Valendrea dann den zweiten Teil verlangt hatte, Tibors Übersetzung, was hatte der Papst da gesagt?
Nein, Alberto. Die bleibt in der Schatulle.
Er hätte den Drecksack damals beiseite schieben und tun sollen, was zu tun war, auch wenn der Nachtpräfekt es sah.
Jetzt war ihm alles klar.
Die Übersetzung hatte niemals in der Schatulle gelegen. Ob sie überhaupt existierte? Ja, gewiss. Daran hatte er keinen Zweifel. Und Clemens hatte gewollt, dass er das wusste.
Er musste die Übersetzung finden.
Er wandte sich an Ambrosi. »Fliegen Sie nach Bosnien. Bringen Sie Colin Michener her. Lassen Sie keine Ausreden gelten, gar nichts. Ich will, dass er morgen hier vor mir steht. Sagen Sie ihm, andernfalls sorge ich dafür, dass ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt wird. «
»Mit welcher Beschuldigung, Heiliger Vater?«, fragte Ambrosi sachlich. »Damit ich ihm auf Rückfragen etwas antworten kann. «
Valendrea dachte einen Moment lang nach und erklärte dann: »Beihilfe zum Mord an Hochwürden Andrej Tibor.«
Vierter Teil
54
Medjugorje, Bosnien-Herzegowina
18.00 Uhr
A ls Katerina sah, wie Ambrosi das Krankenhaus betrat, zog sich ihr Magen zusammen. An seiner schwarzen Wollsoutane fielen ihr sofort der purpurrote Besatz und das rote Zingulum ins Auge, Zeichen seiner Erhebung zum Monsignore. Petrus II. legte offensichtlich Wert darauf, die Beute schnellstmöglich zu verteilen.
Michener ruhte in seinem Zimmer. Alle Untersuchungen waren negativ verlaufen, und er sollte am nächsten Tag entlassen werden. Sie beide hatten vor, dann gegen Mittag nach Bukarest aufzubrechen. Dass Ambrosi nun hier in Bosnien auftauchte, konnte nur Ärger bedeuten.
Ambrosi sah Katerina und kam auf sie zu. »Wie ich hörte, ist Monsignore Michener dem Tod
Weitere Kostenlose Bücher