Urbi et Orbi
gewesen. Das Mühlrad war zwar schon seit Jahrhunderten verschwunden, doch das schwarze Mansardendach, die schmiedeeisernen Balkone und die barocke Fassade waren erhalten. Irma Rahn hatte das Erdgeschoss zu einer Gaststätte umgebaut, in die sie Michener und Katerina jetzt führte. Dort ließen sie sich an eine m r unden Tisch neben einem zwölfteiligen Sprossenfenster nieder. Draußen zog sich der Himmel zu, es würde wohl bald wieder schneien. Ihre Gastgeberin brachte jedem einen Krug Bier.
»Wir haben nur abends geöffnet«, erklärte sie. »Dann wird es allerdings ziemlich voll. Unser Koch ist recht beliebt.«
Michener hatte eine Frage. »Vorhin in der Kirche sagten Sie, Jakob habe mein und Katerinas Eintreffen angekündigt. Stand das wirklich so in seinem letzten Brief?«
Sie nickte. »Er schrieb, Sie würden bestimmt kommen und zwar wahrscheinlich in Begleitung dieser reizenden Frau hier. Mein Jakob war sehr intuitiv, und ganz besonders, wenn es um Sie ging, Colin. Darf ich dich so nennen? Ich habe das Gefühl, dich sehr gut zu kennen.«
»Ich bitte darum.«
»Und ich bin Katerina.«
Sie schenkte ihnen ein freundliches Lächeln.
»Was hat Jakob sonst noch geschrieben?«, fragte er.
»Er hat mir von deinem Dilemma erzählt. Von deiner Glaubenskrise. Ich nehme an, du hast meine Briefe gelesen. Sonst wärst du ja nicht hier.«
»Ich wusste nicht, wie tief eure Beziehung ging.«
Vor dem Fenster tuckerte ein Lastkahn Richtung Norden.
»Mein Jakob war ein Mann, der viel geliebt hat. Er hat sein ganzes Leben anderen geweiht. Sich Gott geschenkt.«
»Aber offensichtlich nicht ganz und gar«, warf Katerina ein.
Michener hatte diesen Einwand erwartet. Am Vorabend hatte Katerina die Briefe gelesen, die er gerettet hatte. Volkners innige Gefühle hatten sie bestürzt.
»Ich war ihm böse«, erklärte Katerina mit ausdrucksloser Stimme. »Ich dachte, er setze Colin unter Druck, sich für di e K irche zu entscheiden. Aber ich habe mich geirrt. Jetzt ist mir klar, dass keiner besser als er verstanden hätte, wie ich mich fühlte.«
»Allerdings. Er hat mir berichtet, wie sehr Colin litt. Er wollte ihm die Wahrheit sagen, damit er sich mit seinem Problem nicht so allein fühlt, aber ich war dagegen. Es war nicht die richtige Zeit dafür. Ich wollte nicht, dass irgendjemand von uns erfuhr. Es ging ja um unsere intimsten Gefühle. « S ie sah Michener an. »Er wollte, dass du Priester bleibst. Er brauchte deine Hilfe, um irgendetwas zu verändern. Ich glaube, er wusste selbst damals schon, dass ihr beide eines Tages etwas Bedeutendes vollbringen würdet.«
»Er versuchte, etwas zu ändern«, erwiderte Michener. Es kam ihm aus dem Herzen. »Nicht im Streit, sondern mit Vernunft. Er war ein friedfertiger Mensch. «
»Aber vor allen Dingen, Colin, war er ein Mensch.« Ihre Stimme erstarb, als kehre eine Erinnerung zurück, die sie nicht übergehen wollte. »Einfach nur ein Mensch, schwach und sündig wie wir alle.«
Katerina griff über den Tisch und umfing die Hand der alten Frau. Beide hatten feuchte Augen.
»Wann hat eure Beziehung begonnen?«, fragte Katerina.
»Wir waren noch Kinder. Schon damals wusste ich, dass ich ihn liebte und immer lieben würde.« Sie biss sich auf die Lippen. »Aber ich wusste ebenso, dass ich ihn niemals wirklich bekommen würde. Nicht ganz und gar. Schon damals wollte er Priester werden. Aber irgendwie hat es mir immer genügt, seine Liebe zu besitzen.«
Michener wollte es wissen, obwohl es ihn wirklich nichts anging. Doch er hatte das Gefühl, die Frage stellen zu dürfen.
»Ihr habt euch niemals körperlich geliebt?«
Sie hielt seinem Blick stand, doch dann trat ein leise s L ächeln auf ihre Lippen. »Nein, Colin. Jakob hat sein Priestergelübde niemals gebrochen. Das wäre für uns beide undenkbar gewesen.« Sie sah Katerina an. »Wir müssen uns selbst vor dem Hintergrund unserer Zeit beurteilen. Jakob und ich kommen aus einer anderen Ära. Es war schon schlimm genug, dass wir einander liebten. Für uns war es undenkbar, noch weiter zu gehen.«
Ihm fiel ein, was Clemens damals in Turin gesagt hatte. Es tut weh, seine Liebe zu unterdrücken. »Hast du immer ganz allein hier gelebt?«
»Ich habe meine Familie, das Restaurant, meine Freunde und Gott. Ich habe die Liebe eines Mannes kennen gelernt, der sich mir ganz anvertraute. Nicht im körperlichen Sinne, aber in jedem anderen. Das können nur wenige Frauen von sich behaupten.«
»Ist es dir denn niemals schwer gefallen,
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