Urbi et Orbi
man besser keine Angst. Tatsächlich hatte sie seinen Besuch ja erwartet, Valendrea hatte ihn schließlich angekündigt. Er hatte gesagt, dass Ambrosi sie schon finden werde. Sie schloss die Tür, zog den Mantel aus und trat zur Stehlampe neben dem Bett.
»Wollen wir das Licht nicht lieber aus lassen?«, fragte Ambrosi.
Ihr fiel auf, dass Ambrosi schwarze Hosen und einen dunklen Rollkragenpullover trug. Sein dunkler Mantel war aufgeknöpft. Nichts von seiner Kleidung ließ an einen Geistlichen denken. Sie zuckte mit den Schultern und warf den Mantel aufs Bett.
»Was haben Sie erfahren?«
Sie überlegte kurz und berichtete dann knapp vom Waisenhaus und Micheners Beunruhigung über Clemens ’ Verhalten. Ein paar entscheidende Fakten verschwieg sie jedoch. Zum Schluss erzählte sie vom Treffen mit Hochwürden Tibor und gab die Warnung des alten Priesters bezüglich der Madonna wieder.
»Sie müssen herausfinden, was in Tibors Antwort steht«, sagte Ambrosi.
»Colin war nicht bereit, sie zu öffnen.«
»Finden Sie eine Möglichkeit.«
»Wie soll ich das Ihrer Meinung nach anstellen?«
»Gehen Sie hoch. Verführen Sie ihn. Lesen Sie dann den Brief, wenn er schläft.«
»Machen Sie das doch einfach selbst. Ich bin mir sicher, dass Sie sich mehr für Priester interessieren als ich.«
Ambrosi stürzte sich auf sie, legte die langen Finger um ihren Hals und riss sie aufs Bett. Seine Hände waren kalt und wächsern. Er setzte das Knie auf ihre Brust und drückte sie in die Matratze. Sie war überrascht, wie viel Kraft in ihm steckte.
»Im Gegensatz zu Kardinal Valendrea habe ich wenig für Ihre lockeren Sprüche übrig. Vergessen Sie nicht, dass wir hier in Rumänien sind, nicht in Rom. Hier verschwinden andauernd irgendwelche Leute. Ich möchte wissen, was Tibor geschrieben hat. Finden Sie es heraus, oder ich halte mich bei unserer nächsten Begegnung vielleicht nicht mehr zurück. « Ambrosi drückte das Knie noch kräftiger auf ihre Brust. »Ich habe Sie heute gefunden, und ich werde Sie auch morgen finden. «
Sie hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt, doch die Finger, die sich noch fester um ihren Hals legten, mahnten sie zur Vorsicht.
Ambrosi ließ sie los und ging zur Tür.
Sie fasste sich an den Hals, holte ein paar Mal tief Luft und sprang dann auf.
Ambrosi wirbelte zu ihr herum, eine Pistole in der Hand.
Sie blieb stehen. »Sie … verdammter … Gangster.«
Er zuckte mit den Schultern. »Die Geschichte lehrt uns, dass die Grenze zwischen Gut und Böse fließend ist. Gute Nacht.«
Er machte die Tür auf und ging.
21
Vatikanstadt, 23.40 Uhr
V alendrea drückte gerade seine Zigarette im Aschenbecher aus, als es an die Tür klopfte. Seit einer Stunde war er völlig in einen Roman vertieft. Er liebte amerikanische Thriller. Sie waren eine willkommene Abwechslung von seinem Leben der sorgsam gewählten Worte und des strengen Protokolls. Imme r w ieder freute er sich auf seinen allabendlichen Rückzug in diese Welt geheimnisvoller Intrigen, und Ambrosi sorgte dafür, dass stets ein neues Abenteuer für ihn bereitlag.
»Herein«, rief er.
Das Gesicht des Hausdieners erschien in der Tür. »Eben erhielt ich einen Anruf, Eminenz. Der Heilige Vater ist in die Riserva gegangen. Sie wünschten, in diesem Fall informiert zu werden.«
Valendrea setzte die Lesebrille ab und klappte das Buch zu . » Danke. Sie können gehen.«
Der Hausdiener zog sich zurück.
Der Staatssekretär schlüpfte rasch in Hemd und Hose, zog ein Paar Turnschuhe an, verließ die Wohnung und ging zu seinem Privatlift. Im Erdgeschoss durchquerte er die leeren Korridore des Apostolischen Palasts. Die Stille wurde nur vom leisen Heulen der rotierenden Überwachungskameras durchbrochen, aber auch vom Quietschen seiner Gummisohlen auf dem Terrazzo. Keiner würde ihn sehen – der Palast war längst für die Nacht geschlossen.
Er betrat das Archiv, beachtete den Nachtpräfekten nicht weiter und nahm den kürzesten Weg durch das Labyrinth der Regale zum Gittertor der Riserva. In dem erleuchteten Raum stand Clemens XV. mit dem Rücken zu ihm, in einer weißen Soutane.
Die Tür des alten Schließfachs stand offen. Valendrea bemühte sich gar nicht, extra leise zu sein. Es war Zeit für eine Konfrontation.
»Kommen Sie herein, Alberto«, sagte der Papst, noch immer mit dem Rücken zu ihm.
»Woher wussten Sie, dass ich es bin?«
Clemens drehte sich um. »Wer denn sonst?«
Valendrea trat ins Licht. Es war das erste Mal seit 1978
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