Urbi et Orbi
Michener reinen Wein einzuschenken. Doch sie wusste, dass dann der wackelige Friede, den sie gestern Abend geschlossen hatten, wieder zerbrechen würde. Dass sie vor allem deshalb für Valendrea gearbeitet hatte, um einen Grund zu haben, Colin wieder näher zu kommen, würde dieser ihr niemals glauben. Er würde nur ihren Verrat sehen.
Tom Kealy hatte mit seiner Einschätzung Valendreas Recht gehabt. Er ist von Ehrgeiz zerfressen, ein richtiges Schwein. Doch Tom würde nie erfahren, wie treffend sein Urteil war. Katerina starrte an die dunkle Zimmerdecke und massierte sich den schmerzenden Hals. Noch etwas hatte Kealy richtig gesehen. Er hatte ihr einmal gesagt, es gebe zwei Sorten von Kardinälen – jene, die Papst werden wollten, und jene, die wirklich Papst werden wollten. Sie fügte dem eine dritte Kategorie hinzu: jene, die nur darauf brannten, Papst zu werden.
Wie Alberto Valendrea.
Sie verabscheute sich zutiefst, Micheners Gutgläubigkei t m issbraucht zu haben. Er war sich selbst und seinem Glauben treu. Vielleicht war es das, was sie zu ihm hingezogen hatte. Schade, dass die Kirche es ihren Geistlichen nicht gestattete, glücklich zu sein. Schade, dass sie bis in den privaten Bereich hinein alles kontrollierte. Diese gottverdammte römisch-katholische Kirche. Und der verdammte Alberto Valendrea.
Sie hatte in den Kleidern geschlafen und die letzten zwei Stunden geduldig gewartet. Jetzt hörte sie über sich die Fußbodendielen quietschen und wurde munter. Mit den Augen folgte sie dem Geräusch von Micheners Schritten. Sie hörte, dass Wasser ins Waschbecken lief, und wartete auf das Unvermeidliche. Gleich darauf hörte sie, dass er in Richtung Korridor ging. Über ihr öffnete und schloss sich die Zimmertür.
Sie stand auf, verließ ihr Zimmer, eilte zum Treppenhaus und hörte, wie oben im Korridor die Tür zum Badezimmer geschlossen wurde. Sie schlich die Treppe hoch, blieb auf dem Treppenabsatz stehen und wartete auf das Rauschen der Dusche. Dann huschte sie über den fadenscheinigen Läufer auf dem holprigen Dielenboden zu Micheners Zimmer. Hoffentlich hatte er noch immer diese Gewohnheit, nicht abzuschließen.
Die Tür war unverschlossen!
Sie trat ein und sah sofort seine Reisetasche. Auch die Kleider, die er gestern getragen hatte, und sein Jackett lagen da. Sie suchte in den Taschen und fand Hochwürden Tibors Brief. Sie wusste von früher, dass Michener immer nur kurz duschte, und riss den Umschlag hastig auf.
H eiliger Vater , ich habe den Eid, den Johannes XXIII. mir abverlangte, um der L iebe Christi willen gehalten. Doch vor mehreren Monaten veranlasste mich ein Zwischenfall , neu über meine Pflichten nachzudenken. Eines der Kinder aus dem Waisenhaus starb. In den letzten Augenblicken seines Lebens fragte es mich vor Schmerz schreiend, ob Gott ihm vergeben werde. Ich konnte mir nicht vorstellen, was diesem unschuldigen Kind vergeben werden müsste, doch ich sagte ihm, dass der Herr alles vergibt. Es bat mich, das näher zu erklären, doch der Tod wartete nicht, und das Kind starb, bevor ich seine Bitte erfüllen konnte. In diesem Moment begriff ich, dass auch ich der Vergebung bedarf. Heiliger Vater, ich habe meinem Papst einen Eid geschworen, und dieser Eid war mir wichtig. Ich habe ihn mehr als vierzig J ahre gehalten, doch man soll den Himmel nicht herausfordern. Es steht mir gewiss nicht an, Ihnen, dem Vikar Christi, zu sagen, was zu tun ist. Diesen Weg kann Ihnen nur Ihr eigenes Gewissen weisen, unter Führung unseres Herrn und Erlösers. Doch ich muss fragen: Wie viel Intoleranz wird der Himmel noch dulden? Ich möchte nicht unehrerbietig sein, aber Sie selbst haben mich um meine Meinung gebeten. Daher habe ich diese in aller Demut geäußert.
K aterina las die Botschaft ein zweites Mal. Hochwürden Tibors Brief war genauso geheimnisvoll wie sein Bericht letzte Nacht. Hier standen nur Rätsel.
Sie faltete den Brief wieder zusammen und steckte das Blatt in einen weißen Umschlag, den sie bei ihren Sachen gefunden hatte. Er war ein bisschen größer als das Original, aber hoffentlich nicht so sehr, dass Colin Verdacht schöpfte.
Vorsichtig steckte sie den Umschlag in seine Jacketttasche zurück und verließ das Zimmer. Als sie an der Badezimmertür vorbeikam, hörte sie, dass die Dusche abgestellt wurde. Sie stellte sich vor, wie Michener sich abtrocknete. Er wusste ja nichts von ihrem letzten Verrat. Katerina zögerte einen Moment lang und ging dann die Treppe hinunter,
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