Urbi et Orbi
worden.
Doch noch nie hatte einer sich selbst das Leben genommen.
Bis heute.
Dritter Teil
30
9.00 Uhr
M ichener beobachtete die Landung des Vatikan-Helikopters vom Schlafzimmerfenster aus. Er hatte Clemens seit der schrecklichen Entdeckung keinen Moment allein gelassen und mit dem Telefon auf Clemens ’ Nachttisch Kardinal Ngovi in Rom angerufen.
Der Afrikaner hatte ja das Amt des Camerlengos inne, des Kardinal-Kämmerers der Heiligen Römischen Kirche, und war damit die erste Person, die nach dem Tod eines Papstes zu informieren war. Nach kanonischem Recht lag die Verwaltung der Kirche während der Sedisvakanz, also der Zeit, in der der Papststuhl nicht besetzt war, in seinen Händen. Unter Ngovis Leitung würde das Heilige Kardinalskollegium in den nächsten Wochen zu Generalkongregationen zusammentreten und die Generalverwaltung des Vatikans sicherstellen. Dort würde man die Bestattung organisieren und das kommende Konklave vorbereiten. Als Camerlengo hatte Ngovi päpstliche Autorität, zwar nur als Stellvertreter, aber dennoch unbestreitbar. Michener freute sich darüber. Irgendjemand würde Alberto Valendrea schließlich im Zaum halten müssen.
Die Rotorblätter des Hubschraubers standen endlich still, und die Kabinentür glitt auf. Ngovi stieg als Erster aus, gefolgt von Valendrea. Beide trugen Purpur, die Kleidung für feierliche Anlässe. Als Kardinalstaatssekretär war Valendrea s A nwesenheit erforderlich. Zwei weitere Bischöfe folgten Valendrea, zusammen mit dem Leibarzt des Papstes, den Michener eigens hatte herbitten lassen. Er hatte Ngovi nichts von den Umständen des Todes erzählt. Auch den Bediensteten in der Papstvilla hatte er nichts davon gesagt, sondern der Nonne und dem Hausdiener nur aufgetragen, dafür zu sorgen, dass keiner das Zimmer betrat.
Drei Minuten vergingen, dann öffnete sich die Tür, und die beiden Kardinäle und der Arzt traten ein. Ngovi schloss die Tür und legte den Riegel vor. Der Arzt trat zum Bett und untersuchte Clemens. Michener hatte alles genauso zurückgelassen, wie er es vorgefunden hatte. Auch Clemens ’ Notebook lief noch, und das Modemkabel steckte noch immer in der Telefonbuchse. Auf dem Monitor leuchtete Clemens ’ persönlicher Bildschirmschoner – eine Tiara mit zwei überkreuzten Schlüsseln.
»Berichten Sie, was geschehen ist«, sagte Ngovi und legte eine schwarze Tasche auf das Bett.
Michener erklärte, wie er den Papst vorgefunden hatte, und zeigte dann auf den Nachttisch. Den beiden Kardinälen war das Tablettenfläschchen bisher entgangen. »Es ist leer.«
»Wollen Sie behaupten, der Pontifex der katholischen Kirche habe sich das Leben genommen?«, fragte Valendrea.
Michener war nicht in der Stimmung zu streiten. »Ich behaupte gar nichts. Nur, dass in diesem Fläschchen vor kurzem noch dreißig Tabletten waren.«
Valendrea wandte sich an den Arzt. »Wie sehen Sie das, Herr Doktor?«
»Er ist schon eine Weile tot. Fünf oder sechs Stunden, vielleicht länger. Es gibt keinen Hinweis auf eine Verletzung und nichts, was auf einen Herzstillstand deuten ließe. Dem ersten Anschein nach scheint er im Schlaf gestorben zu sein.«
»Könnten es die Tabletten gewesen sein?«, fragte Ngovi.
»Das lässt sich nur durch eine Autopsie feststellen.«
»Das kommt nicht in Frage«, erklärte Valendrea.
Michener widersprach dem Staatssekretär: »Wir müssen Bescheid wissen.«
»Wir müssen überhaupt nichts wissen.« Valendrea hob die Stimme. »Und es ist tatsächlich das Beste, nichts zu wissen. Vernichten Sie den Tablettenbehälter. Können Sie sich die Auswirkungen vorstellen, wenn bekannt wird, dass der Papst sich das Leben genommen hat? Allein schon ein Gerücht könnte der Kirche nicht wieder gutzumachenden Schaden zufügen.«
Michener hatte sich das selbst schon überlegt, war aber fest entschlossen, seine Sache besser zu machen als die Verantwortlichen im Jahr 1978, als Johannes Paul I. nach nur dreiunddreißig Tagen im Amt plötzlich gestorben war. Die Gerüchte und Fehlinformationen im Anschluss an dieses Geschehen – die eigentlich nur die Tatsache kaschieren sollten, dass eine Nonne und kein Priester die Leiche entdeckt hatte – hatten zahlreiche Verschwörungstheorien über einen Papstmord geschürt.
»Einverstanden«, räumte Michener ein. »Man kann einen solchen Selbstmord nicht öffentlich machen. Aber wenigstens wir sollten die Wahrheit wissen. «
»Damit wir dann lügen können?«, fragte Valendrea. »Besser, wir wissen
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