Urbi et Orbi
um die Fernsehbildschirme, die an verschiedenen Stellen aus dem Gewühl herausragten, größere Menschenmengen ansammelten. Außerdem sah sie, dass einige Frauen weinten. Schließlich fiel ihr Blick auf einen dieser Bildschirme. Man sah den Petersplatz von oben. Sie schob sich näher an den Monitor heran und hörte: »Hier herrscht tiefe Trauer. Clemens ’ XV. Tod trifft alle, die diesen Papst liebten. Er wird uns fehlen. «
»Der Papst ist tot?«, fragte sie laut.
Eine Frau im Wollmantel antwortete: »Er ist gestern Nacht in Castel Gandolfo im Schlaf gestorben. Gott sei seiner Seele gnädig.«
Sie fühlte sich überrumpelt. Ein Mann, den sie seit Jahren hasste, war nicht mehr. Sie hatte ihn nie wirklich kennen gelernt – Michener hatte einmal versucht, sie einander vorzustellen, doch sie hatte das abgelehnt. Damals war Jakob Volkner Erzbischof von Köln, und sie sah alles in ihm, was sie an der organisierten Religion verabscheute – ganz zu schweigen von dem Tauziehen um Colin Micheners Gewissen. Sie hatte verloren und das Volkner niemals verziehen. Sie hasste ihn nicht für das, was er getan oder unterlassen hatte, sondern weil er ein Symbol ihres Verlusts war.
Jetzt war er tot. Und Michener gewiss am Boden zerstört.
Ein Teil von ihr wollte noch immer zum Flugschalter und dann nach Deutschland. Michener würde darüber hinwegkommen. Doch bald würde ein neuer Papst gewählt werden. Neue Berufungen würden folgen. Eine frische Welle von Priestern, Bischöfen und Kardinälen würde nach Rom strömen. Sie wusste genug über die Politik im Vatikan, um klar zu sehen, dass es mit Clemens ’ Vertrauten vorbei war. Deren Karriere war vorüber.
Nun, das war nicht ihr Problem. Doch ein anderer Teil von ihr sah das ganz anders. Vielleicht war es wirklich schwer, alte Gewohnheiten zu durchbrechen.
Sie drehte sich um, das Gepäck in Händen, und verließ den Terminal.
31
Castel Gandolfo, 14.30 Uhr
V alendrea betrachtete die versammelten Kardinäle. Die Stimmung war angespannt, und viele gingen ungewöhnlich nervös im Raum auf und ab. Im Salon der Papstvilla befanden sic h v ierzehn Männer, überwiegend Kurienkardinäle oder Kardinäle mit einem Sitz in der Umgebung von Rom. Sie waren als Erste dem Ruf gefolgt, der vor drei Stunden an alle 160 Mitglieder des Heiligen Kollegiums ergangen war: CLEMENS XV. IST TOT, KOMMEN SIE SOFORT NACH ROM. Wer sich in einem Umkreis von hundert Kilometern zum Vatikan befand, hatte außerdem die Aufforderung erhalten, sich um 14 Uhr in Castel Gandolfo einzufinden.
Das Interregnum hatte begonnen, jene Zeitspanne zwischen dem Tod eines Papstes und der Wahl seines Nachfolgers, eine Phase der Ungewissheit, in der die päpstliche Macht darniederlag. In früheren Jahrhunderten hatten Kardinäle in dieser Situation zugegriffen und sich die Stimmen der Papstwähler durch Bestechung oder Erpressung gesichert. Valendrea tat es Leid um diese Zeiten. Sieger sollte immer der Stärkste sein. Für die Schwachen gab es ganz oben keinen Platz. Heutzutage ging es bei den Papstwahlen jedoch viel gemäßigter zu. Inzwischen schlug man die Schlachten mit den Waffen der Fernsehkamera und der Meinungsumfrage. Die Beliebtheit des Papstes schien bei der Wahl eine größere Rolle zu spielen als die Fähigkeiten, die er für das Amt mitbrachte. Und das erklärte nach Valendreas Meinung besser als alles andere, warum Jakob Volkner in das Amt gelangt war.
Nun, Valendrea war mit der bisherigen Entwicklung trotz allem durchaus zufrieden. Fast alle Männer, die bis jetzt eingetroffen waren, gehörten zu seinen Unterstützern. Für einen frühen Wahlsieg im Konklave würde er eine Zweidrittelmehrheit benötigen, und dazu reichte es auch nach seiner jüngsten Berechnung noch nicht, doch ihm und Ambrosi sollte es mit Hilfe ihrer Abhörprotokolle wohl gelingen, sich die notwendige Unterstützung in den nächsten zwei Wochen zu sichern.
Valendrea wusste nicht, was Ngovi der Versammlung mitteilen würde. Seit der Diskussion in Clemens ’ Schlafzimmer hatte er nicht mehr mit dem Camerlengo gesprochen. Er konnte nur hoffen, dass der Afrikaner seinen gesunden Menschenverstand benutzte. Ngovi stand an der Längsseite des langen Raums vor einem eleganten Kamin aus weißem Marmor. Auch die anderen Kardinäle standen.
»Eminenzen«, begann Ngovi, »ich werde noch heute meine Helfer bei der Planung der Bestattung und des Konklaves bestimmen. Ich halte es für wichtig, dass wir uns aufs Würdevollste von Clemens
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