Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Gesellschaftskomödien Gänsehaut oder das große Gähnen. Nur das Bis-an-die-Grenze-Gehen zählt oder genügt in Sachen Kunst. Nun, wieder so ein Fall von rasender gewissenloser Unbürgerlichkeit, gelinde gesagt, Anstandslosigkeit/Rauschabhängigkeit wie Malcolm Lowry, wie Friedrich Kuhn, es ist das Manische, das allen Benimmregeln Spottende, das Sittliche Verabscheuende, es ist die »Freiheit«, dieser Freiheitsgrad, den ich auch bei einem Serge Gainsbourg spüre, an dem meine eigenen künstlerischen Wellen sich brechen, diesen Verlorenen oder Verdammten gegenüber komme ich mir wie der ärgste Spießer vor, solche »Freiheit« wage ich nicht in Anspruch zu nehmen, bleibe gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Abel Ferrara kommt meiner Meinung nach spürbar von Cassavetes her. Das was mich abstößt und anzieht und tief irritiert, ist wohl die Rücksichtslosigkeit in der Selbstzerstörung. Es muß sich um eine verdrängte Hälfte in mir handeln.
Insgesamt eine schöne Kinonacht gewesen, eine wahre Lebenszufuhr, wie sie nur echte Kunst vermag. Danach der Heimweg zu Fuß nach Hause bei Tagesanbruch, den Quais entlang.
21. Oktober 2004, Paris
Das Drehbuch der Liebe . Journal 1973-1979 ist seit gestern im Buchhandel und verspricht, nicht ganz unbemerkt über die Bühne zu gehen. Ich las daraus im Rahmen der Unseld-Ausstellung im Wasserschlößchen im Holzhausenpark in Frankfurt (ganz in der Nähe der Unseldschen Klettenbergstraße); der nicht enden wollende Applaus des vollbesetzten Saals wäre wenigstens zehn Vorhänge auf der Bühne oder ebenso viele Verbeugungen des Solisten oder Dirigenten nach einem Konzert wert gewesen, die Lesung wurde auch von den Suhrkamp-Leuten als eine Sternstunde bezeichnet. Man sagt mir Gelassen- und Vergnügtheit nach, und das bin ich auch, sinnlos vergnügt, sage ich immer. Ich war auch auf der Buchmesse bei dem ZDF -Gespräch mit einem Herrn Panzer auf dem Blauen Sofa sehr entspannt und zugänglich. Und gestern in der FNAC in Strasbourg zusammen mit Colette Fellous, doch da handelte es sich um Maria Maria . Viel Außendienst, so letzten Sonntag in Stuttgart zusammen mit Diane Meur zur Entgegennahme ihres Übersetzerpreises (André-Gide-Preis), den sie für mein erstes Journal, Die Erstausgaben der Gefühle , erhalten hat. Wir lasen an der Preisfestlichkeit die deutsche und übersetzte französische Version. Wir tafelten und plauderten mit den Juroren und den Leuten der DVA -Stiftung, mehrheitlich ältere, eindrückliche, gutgelaunte deutsche Herrschaften, die ich in einem geheimen Rückschluß auf die deutsche Ehezeit, auf Aschaffenburg, München, Nürnberg und dergleichen, sowohl prima verstand wie auch mochte; das Rad war zurückgedreht, voilà. Und wenn ich an den Spaziergang auf dem alten Stuttgarter Friedhof und an das Lesen der deutschen Grabsprüche, auch von hingegangenen Adligen, denke und auch an den bei Pivonas in Wiesbaden verbrachten Tag (am Tag der Lesung in der Unseld-Ausstellung), dann kann ich sagen, daß ich diesmal Deutschland geradezu genossen habe. Jedenfalls wurde etliches reaktiviert an in mir versunkenen frühen Eindrücken von damals, als dem jungen Studenten das Original der humanistischen Bildung, die er genossen hatte, in Form von Nachkriegsdeutschland begegnet war. Oder bin ich versöhnlicher geworden?
Gestern mit Samuel Moser ein langes Interview auf Band aufgenommen, vor kurzem ein großes Gespräch mit Norbert Jocks über Glück überarbeitet sowie ein sehr umfangreiches mit Doris Krockauer, wo noch ein problematischer Rest zu bewältigen bleibt; und noch etwas weiter zurück liegt das mit Werner Morlang geführte ausführliche Gespräch über Canetti, kurzum lauter Auskunftgeben, lauter Summeziehen, natürlich hängt es auch mit dem kommenden Geburtstag zusammen. Und im Moment überarbeite ich Skwaras Übersetzung der République Nizon , die auf deutsch im kleinen Wiener Selene Verlag herauskommen wird auf Veranlassung und unter Mitarbeit von Stefan Gmünder. Wenn ich erst damit durch bin, kann ich endlich wieder an Das Fell der Forelle , Gottseidank.
10. November 2004, Villa Mont-Noir Saint-Jans-Cappel
Handke, Don Juan
Es geht um das archaische Verständnis von Frau und Mann, nicht um Liebe im landläufigen Sinne und schon gar nicht um Weiberheldentum bzw. Eroberung, sondern um die gegenseitige Erweckung im Blick des Erkennens. Das Ganze erzählt vom Gastwirt in Chaville alias Handke, und Don Juan ist zuerst ein Zuflüchtiger,
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