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Urlaub fuer rote Engel

Urlaub fuer rote Engel

Titel: Urlaub fuer rote Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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backen. Aber was wäre ein Fest ohne selbstgebackene Plätzchen? Sie
     schenkt uns jedes Jahr welche.«
    Nachts um ein Uhr, als ich aus der Lauschaer »Western-Gaststätte« zurückkomme, brennt bei den Hähnleins in der Werkstatt immer
     noch Licht. Er sitzt vor der Flamme und bläst Christbaumkugeln. Sie malt. Ich klingele nicht.
    Vor ihrem Haus sind Kugeln vom Baum gefallen. Eine ist zerbrochen, gibt ihr Inneres preis. Anstelle des äußeren Lichterglanzes
     sehe ich innen nur eine matte, blinde und kalte Silberschicht. Die zwei Seiten der Christbaumkugeln, die mir Walter Hähnlein
     zeigen wollte.
    Ich erinnere mich, dass mir ein Mitarbeiter bei Krebs erläutert hatte, der neueste Trend bei Christbaumschmuck gehe zu gestalteten
     Weihnachtsbäumen, den sogenannten Themenbäumen. Zum Beispiel müsste der Musikbaum mit zierlichen gläsernen Musikinstrumenten,
     goldenen Tonleiterketten, gerollten Notenblättern und einer beweglichen Kapelle geschmückt werden. »Ohne Tanne kostet das
     mindestens 1.000 Mark. Ein Weihnachtskonzert für Besserverdienende.«
    Ich hänge die noch heilen unthematischen Hähnlein’schen Weihnachtskugeln, die silbrigen Zapfen und Nüsse, die Vögel mit dem
     Gefieder aus venezianischem Staub wieder an die kleine Fichte. Muss daran denken, was mir der 90-jährige Glasbläser Fritz
     Leipold Büttner, der bis zu seinem 80. Geburtstag an der Lampe saß, in seiner ruhigen, wortkargen Lauschaer Art gesagt hat:
     »Wenn in Lauscha mal die Lampen ausgehen, weil’s keine Aufträge mehr gibt, dann ist das für die Lauschner heute schlimmer
     als für unsereinen damals. Jeder von uns hatte außer dem Glas noch ein Stück Acker für Kartoffeln, mindestens eine Ziege im
     Stall und meist auch ein Fangeisenim Schuppen, um sich einen Hasenbraten aus dem Wald zu holen. Aber heute, was haben die Glasbläser heute? Außer ihrem Glas?
     Nichts. Und wenn die Preise für die Kugeln wegen der Billigware aus Asien sinken, dann werden die Glasbläser hier, um ihren
     Lebensunterhalt weiter verdienen zu können, auch heute nicht schneller arbeiten, das geht gar nicht, sie werden jeden Tag
     länger arbeiten. Bis Mitternacht. Und die Kinder auch.«
    Aus Lauscha zurück, rufe ich die Thüringer Außenstelle der »IG Chemie, Papier und Keramik« in Jena an, erkundige mich nach
     den Tarifen für die Glasbläser. Als ich der Gewerkschaftsfrau am Telefon von Lauscha und der neuen Fabrik des Michael Krebs
     erzähle, unterbricht sie mich. Den feinen Herrn kenne sie. Übervolle Auftragsbücher, Sonnabendarbeit. Kein Urlaub im Sommer.
     Überstunden … Aber wehe, ein Gewerkschafter verlange mehr als diesen Billiglohn …
    Ich sage ihr, dass er zur Zeit ein neues Lohnsystem einführt. Grundlohn und dazu bei Übererfüllung bis zu 30 Prozent bei entsprechender
     Punktebewertung. Und sie entgegnet mir in ihrem lustigen, freundlichen Dialekt (»Ich komme aus dem Badischen«): »Ja, ich weiß,
     wer am Tag mehr als einmal aufs Scheißhaus muss, der kriegt eben keinen Pluspunkt. Kennen wir im Westen alles schon.«
    Ich frage, wie sie ihren Weihnachtsbaum schmückt. Und sie schwärmt: »Kein Lametta, nur das Grün der Nadeln. Dazu weiße Schleifen
     und einfache weiße Kugeln. Wunderschön …«
    »Kugeln aus Lauscha?«
    »Ja, Kugeln aus Lauscha. Ich sage den Leuten immer: Kauft die Waren aus dem Osten. Jede Christbaumkugel hilft.«
    »Auch die vom Krebs?«
    »Natürlich, auch die vom Krebs.«

Sag Sascha, nicht Alexander! oder: »Die Eltern haben drei Kinderärzte totgeschlagen«
    Es war nicht nach dem fünften oder sechsten oder zehnten oder elften Wodka, sondern vor dem allerersten, als der Arzt Alexander
     Komarow aus dem kalten schmutzigen Kamyschin – an der Wolga zwischen Saratow und Stalingrad gelegen – zu mir sagte: »Ich heiße
     zwar Alexander, aber meine Frau, meine Mutter, mein Töchterchen und meine Freunde nennen mich Sascha. Sag also Sascha zu mir!«
    Und das war im Oktober 89.
    Vor zwei Wochen schrieb Saschas 10-jährige Tochter Lena an unsere 11-jährige Tochter Ulrike: »Hallo Uli, wir bekamen Euer
     schönes Päckchen und Deinen Brief gleichzeitig. Vielen Dank für die schönen Sachen. Alles ist sehr gefallen. Das Päckchen
     kam am 14. Januar an, das war gerade ein alter russischer Feiertag: der Kirche beginnt neues Jahr. In diesem Jahr bei uns
     sehr viel Schnee ist. Und der Frost ist jeden Tag. Es taut nicht. Und erst jetzt habe ich mich besonnen, dass ich Ski habe.
     Solche kleinen, aus dem Plast,

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