Urlaub fuer rote Engel
aber ohne Stöcke. Und jetzt laufe in den Dünen ich schon dritten Tag. Und dein Wunsch mir (vom
guten Rutsch) hat sich erfüllt. Im neuen Jahr hatten wir einen großen Tannenbaum, Jolka, gekauft, haben den in ein Glas mit
Wasser gestellt, begossen ihn jeden Tag und plötzlich darauf wuchsen sogar neue Zweigchen mit grünen Blättern, 7 cm lang …«
Und weil sie noch nie in Deutschland waren, lud ich Sascha und seine Frau Alja und ihr Töchterchen Lena ein, uns im Sommer
1996 zu besuchen.
Auf meine Einladung und die Frage nach notwendigen Formalitäten schrieb er mir: »Ihr lieben Freunde, wir bekamen Euren Brief.
Und ich antworte sofort. Folgende Bürokratie ist bei Euch nötig: Das ist die Einladung auf offiziellem Formular, das Ihr uns
schicken sollt. Nur wenn wir Eure Einladung mit offiziellem Formular erhalten, werden wir hier übrige Dokumente weiter organisieren
dürfen.«
Ich ging also zur Meldestelle meines in die Stadt Suhl eingemeindeten Dorfes Dietzhausen und fragte nach dem offiziellen Formular.
Die Meldestellenfrau kannte ich gut, sie klärte mich auf, dass Einladungen jetzt Sache der Ausländerbehörde in der Stadtverwaltung
seien. Sie rief dort für mich an und fragte, ob man das benötigte Formular der Meldestelle zuschicken könne.
Man konnte nicht. Also gab sie mir den Hörer, und ich erkundigte mich nach den nötigen Formalitäten.
Eine weibliche Stimme erklärte mir, dass ich persönlich erscheinen, den Antrag ausfüllen und dazu meinen Ausweis sowie die
Lohnbescheinigung vorzeigen müsse.
»Etwa 2.000 DM monatlich müssten Sie nachweisen können, verstehen Sie, als Sicherheit, sonst können wir das Einladungsformular
nicht unterschreiben.« Pause, weil ich schwieg. »Verstehen Sie?«
Ich sagte, dass ich nichts verstände, ein freischaffender Schriftsteller sei und leider ohne festes Gehalt.
Dann müsste mein Steuerberater mir bestätigen, dass ich die Summe von monatlich 2.000 DM …
Das könne er nicht, bedauerte ich, denn ich hätte oft weniger.
Dann dürfe sie keine Bestätigung ausstellen.
»Sie müssen doch für alle Eventualitäten finanziell haften können. Ihr Russe kann sich hier einen Arm brechen, also allein
das Röntgen und Eingipsen, Krankentransport, das sind ein paar Tausender. Oder noch schlimmer: Wenn jemand von dieser russischen
Familie im Kaufhaus klaut, erwischt wird und sofort mit dem Flugzeug zurückmuss – Flugkosten für eine dreiköpfige Familie,
mindestens 5.000 …«
Ich redete hilflos was von Freundschaft und dass ich diese Familie persönlich kenne.
Und sie, die Frau vom Ausländeramt, würde mich doch auch kennen. Ich hätte im sowjetischen Hungerwinter 1990 mit einem LKW
die Suhler Hilfsgüter in drei Tagen nach Kaluga kutschiert. Und ihr Chef, der Oberbürgermeister Kummer, hätte mich damals
sehr herzlich verabschiedet und tiefbewegt von Freundschaft und den wichtigen menschlichen Beziehungen gesprochen.
»Alte Freundschaften«, sagte sie bedauernd, »alte Freundschaften sind die eine Sache, die andere und allein entscheidende
ist die heutige Verordnung. Und die besagt, dass Sie keinen Russen oder anderen Osteuropäer in die BRD einladen dürfen, wenn
Sie nicht 2.000 Deutsche Mark … Verstehen Sie doch endlich!«
Ich hätte ihr von Sascha und Alja und der kleinen Lena erzählen können, von meiner ersten und bisher einzigen Begegnung mit
ihnen, doch ich begann zu ahnen, dass das in dem Fall auch niemanden mehr interessierte.
Sascha hatte uns, als er in der Zeitung »Rotes Banner« las, dass zwei Deutsche in Kamyschin über Perestroika, Glasnost und
den Alltag der Menschen in der 400.000-Einwohner-Stadt schreiben wollten, ohne uns zu kennen, zu sich nach Hause eingeladen.
»Um mit den lieben Gästen aus Deutschland reden, essen und trinken zu können«, hatte er auf einen Zettel geschrieben, den
er im Hotel für uns hinterlegt hatte.
Er wohnt in einem der Neubauviertel. Die Treppe ist steil und das Treppenhaus so spärlich beleuchtet, dass Gerd und ich die
Türschilder nicht entziffern können. Aber im 4. Stock steht die Tür schon offen, es riecht nach Kraut und Roten Beten, nach
Knoblauch und Gebratenem. Alexander stellt uns zuerst seine Mutter vor. Sie wohnt mit ihnen in der winzigen Wohnung und hat
den ganzen Tag für uns gekocht. In einer Porzellanschüssel serviert sie Borschtsch, die berühmte Rote-Bete-Suppe, die sich
von der Ukraine aus in der ganzen ehemaligen Sowjetunion
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