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Urlaub fuer rote Engel

Urlaub fuer rote Engel

Titel: Urlaub fuer rote Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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verbreitet hat. Und auf einem großen Teller bringt sie, hoch aufgestapelt,
     goldbraun gebratene Krautwickel.
    Willkommenswodka aus kleinen Gläsern. Alexander trinkt auf die Gäste. »Die teuersten und ehrenvollsten, die wir bisher in
     unserer Wohnung begrüßt haben.« Sascha ist kein so geübter Toastredner wie die meisten Russen.
    Die zum Stamme der Mari gehörende Alja und der Russe Sascha haben Medizin studiert. Er unterrichtet an der Medizinischen Schule,
     sie arbeitet in der Kinderklinik. Über Medizin reden wir erst später. In den ersten Stunden spricht Sascha nur über ein Thema:
     die deutschenMenschen, die deutsche Sprache, die deutsche Literatur, die deutsche Musik. Leider habe er an der Universität kein Deutsch
     erlernen können, aber nun studiere er als Autodidakt die Grammatik und Aussprache, um Goethe und Heine in der Originalfassung
     lesen zu können. Die Deutschen, schwärmt er, sind solch kulturvolle Menschen, feinfühlig und gebildet. »Wir Russen dagegen
     sind plump und aggressiv.« Er holt ein deutsches Märchenbuch, zeigt Lena die Bilder und ist glücklich, wenn die 4-Jährige
     auf Deutsch »Wolf« und »Großmutter« und »Kuchen« sagt.
    Alja sitzt still daneben und lächelt. Aber plötzlich sagt sie übergangslos: »Sascha hat heute einen Tag Urlaub genommen. Er
     ist von früh bis abends durch die Stadt gelaufen, von Geschäft zu Geschäft, um für die teuren deutschen Gäste ein paar Flaschen
     Bier zu organisieren. Von früh bis abends, stellen Sie sich das vor. Er hat trotzdem kein Bier bekommen. Und wenn ihm nicht
     ein Kollege eine Flasche Wodka ausgeborgt hätte … Wie entmutigend für einen Menschen, für einen Arzt, der sechs Jahre studiert
     hat. Was für ein schreckliches Leben!« Nein, sie wolle nicht klagen, sagt Alja, aber wenigstens die Wahrheit erzählen über
     ihr Leben. »Ein Dreher verdient in Kamyschin beispielsweise 300 Rubel. Ich als Ärztin, verantwortlich für das Leben von 80
     Kindern auf der Station, erhalte 130 Rubel. Wir haben für alle Kinder drei Spritzen. Drei Spritzen in der Kinderklinik, die
     wir wie das Wasser des Lebens hüten. Und immer wieder mahnen wir die Schwestern, sie zu pflegen und zu pflegen und zu pflegen.
     Und zu sterilisieren und zu sterilisieren und zu sterilisieren. In Wolgograd sind fast einhundertKinder im Krankenhaus mit AIDS infiziert worden, weil sie keine Einwegspritzen haben. Aus Wut haben die betroffenen Eltern
     drei Ärzte totgeschlagen.«
    Ich bezweifle die Wahrheit, doch Alja versichert, dass sie diese Information öffentlich in der Dienstberatung erfahren hat.
    Während wir Tee trinken und Honig löffeln, übt Sascha mit Lena die deutschen Zahlen. Bis acht kann sie schon zählen.
    Ich frage, wie viele Kinder sie noch großziehen wollen.
    »Kein einziges mehr«, sagt Alexander. »Es ist unverantwortlich, in diesem Land heute Kinder in die Welt zu setzen. Nein, dieses
     Risiko, dass unsere Kinder vielleicht keine Milch haben werden und kein Brot, dieses Risiko werden wir nicht auf uns nehmen.«
    Alja nickt. Es sei ein Verbrechen oder besser gesagt eine Sünde, in diesem Land Kinder zu gebären.
    Sie sagt es nicht laut und leidenschaftlich agitatorisch, sondern sehr leise, sehr stockend und sehr traurig.
    Wir bleiben bis kurz vor Mitternacht.
    Alja kocht den traditionellen russischen Abschiedstee. Dann, entgegen allen Ritualen, eine zweite Kanne. Und auch noch eine
     dritte.
    Sascha nimmt Lena auf den Schoß und singt mit ihr in deutscher Sprache: »Alle meine Entchen …« Und plötzlich weint Alja. Wir
     sollten wiederkommen, sagt sie. Wir könnten zusammen Bach hören und Rachmaninow und Lena werde dann schon einige deutsche
     Worte mehr sprechen.
    Sascha schenkt Gerd zum Abschied das in der DDRverbotene Buch »Die Kinder vom Arbat« auf Russisch. Mir überreicht Alja einen kleinen Wecker. Wenn er mich weckt, möge ich
     an die Familie Komarow in Kamyschin denken. Und wir sollten im nächsten Jahr mit unseren Frauen und allen Kindern zu ihnen
     kommen. »Es haben alle Platz«, sagt Alja, umarmt uns flüchtig, weint und weint. Sascha, Alja, Lena und die Großmutter wohnen
     in zwei kleinen Zimmern. Aber ich weiß, es wird Platz sein, selbst wenn wir unangemeldet alle auf einmal kommen würden.
     
    Nach fünf Minuten erfolglosem Telefonat im Meldeamt sagte ich den selbst für eine gesetzesbefolgende Ausländerbeauftragte
     – sofern sie DDR-Bürgerin gewesen ist – wahrscheinlich immer noch schlimmen Satz: »Also

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