Urmels großer Flug
Mauerreste und
zerbröckelnde Türme leuchteten ziegelrot inmitten von Palmen. Die Sitze für die
Zuschauer stiegen im Halbkreis und stufenförmig einen Hügel hinauf. Von ihnen
hatte man einen prächtigen Blick auf die Bühne. Weniger prächtig waren die
behelfsmäßigen Räume für das technische Personal und die Garderoben der
Schauspieler und Sänger. Sie waren in einer Holzbaracke untergebracht, die man
nachträglich neben die Bühne gesetzt hatte.
Als
das Urmel und Schusch hierherkamen, war es schon später Nachmittag, kurz vor
Beginn der Abendvorstellung. Die ersten Zuschauer waren bereits herbeigeströmt
und hatten auf den Sitzen Platz genommen. Mehr und mehr füllten sich die
Reihen. Die Leute hatten sich, wie das im Süden so üblich ist, belegte Brote
mitgebracht, Äpfel, Apfelsinen und Mandarinen, gekochte Eier und Tomaten, damit
sie während der langen Opernaufführung nicht abmagerten.
Weder
das Urmel noch Schusch wußten gleich, was für eine Veranstaltung hier
stattfinden sollte. »Bestämmt kein Fußballspäl«, meinte Schusch. »Äch sehe
nämläch keine Tore.«
»Unten,
neben dem Eingang, sind irgendwelche Zettel angeklebt«, sagte das Urmel. »Flieg
du hinunter und lies mal, was darauf steht, ich bin zu groß und möchte mich
jetzt noch nicht sehen lassen.«
Ȁmmer
äch«, meinte Schusch wenig erfreut. Da er aber einen sehr dichten Baum
erblickte, in dem er sich gut verstecken konnte, während er seine Studien
betrieb, flatterte er, einen weiten Bogen um das Theater beschreibend, dorthin
und fuhr ins Geäst wie eine heftige Windbö. Manche Leute an der Kasse
erschraken und blickten auf, konnten aber nichts entdecken. Es dunkelte auch
bereits. Das Plakat aber wurde mit hellen Lampen angestrahlt.
Schusch
studierte nach besten Kräften, und als er zu dem Urmel zurückkehrte, berichtete
er: »Einmal gäbt es ›Aäda‹.«
»Was
ist denn das?«
»Eine
Oper von Verdä. Oper äst das, wo dä Menschen säch ansängen, anstatt zu reden.
Und hänterher wärd geklatscht und ›Bravo!‹ gerufen. Und ein andermal gäbt es ›Dä
Jungfrau und der Drache‹.«
»Schade,
daß Seele-Fant nicht hier ist«, meinte das Urmel. »Oper wäre etwas für ihn.
Wird hinterher wirklich geklatscht und ›Bravo!‹ gerufen? Nach jedem Gesinge?«
»O
ja, und dä Sänger sänd sehr berühmt, man sprächt von ähnen, man schreibt über
sä Krätäken än der Zeitung, und äch glaube, dä heutäge Vorführung wärd sogar
vom Radäo gesendet, denn über der Bühne hängen Mäkrofone!«
Das
Urmel freute sich, in Schusch einen so welterfahrenen Begleiter zu haben, der
ihm so vieles erklären konnte. Und nach kurzer Überlegung verkündete es, daß es
sich entschlossen hätte, in der Oper aufzutreten und zu singen. »Singen habe
ich von Seele-Fant gelernt«, meinte es. »Und wenn mein Gesang im Radio
übertragen wird und die Zeitungen hinterher über mich schreiben, wie herrlich
ich gesungen habe! Du, das ist genau die Gelegenheit, die ich brauche, um ganz
berühmt zu werden, berühmt durch die Kunst! Danach können wir dann nach Titiwu
zurückfliegen, denn niemand kann mehr sagen, es gibt mich nicht!«
Schusch
hatte berechtigte Bedenken gegen dieses Vorhaben. Die Aussicht einer baldigen
Heimkehr nach Titiwu aber ließ ihn schweigen.
Überall
flammten jetzt die Lampen auf. Sie beleuchteten Wege und Treppenstufen in der
Dunkelheit. Darüber flimmerten die Sterne. Die letzten Besucher suchten sich
ihre Plätze.
Und
das Urmel flüsterte Schusch zu: »Gleich, wenn der Vorhang sich hebt, trete ich
auf. Im hellen Scheinwerferlicht, wie ein richtiger Schauspieler oder Sänger!«
»Hast
du denn gar kein Lampenfäber?«
»Lampenfieber
— was ist das?« antwortete das Urmel hochnäsig. Und dann verschwand es in der
Finsternis.
Es
flog hinter die Bühne. Dort suchte es ein Versteck. Es duckte sich neben eine
Säule. Auf der Bühne eilten viele Menschen hin und her, sie trugen
Dekorationsstücke aus Pappe. Ein Herr im weißen Kittel aber jagte mit einem
großen Notizblock herum. Er war verantwortlich dafür, daß die Dekoration richtig
aufgestellt wurde, für die Auftritte der Sänger... kurzum für alles. Er war
eine wichtige Persönlichkeit: der Inspizient.
Heute
war er besonders nervös, weil ihm die Hauptdarstellerin wieder einmal unter
Tränen mitgeteilt hatte, daß sie unmöglich auftreten könne. Sie sei total
heiser und brächte keinen Ton heraus. Das beteuerte sie allerdings vor jeder
Vorstellung, denn sie hatte
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