Urmels großer Flug
Abfahrt. Er durfte
keine Verspätung zulassen. Es war sowieso schwer genug, diesen Vorgang der
Eisenbahnverwaltung in sachlicher Amtssprache zu erklären.
Und
da half ihm später auch die Kritzelzeichnung nichts, die in der Toilette
entdeckt wurde, eine Zeichnung mit der Unterschrift »Urmel« oder »Ärmel« oder
»Orml«, wer konnte das schon entziffern. Schnell frische Farbe drüber!
Doch
das war lange danach.
In
dieser Nacht hatten weder das Urmel noch Schusch Lust auf weitere
Reiseabenteuer.
Sie
entdeckten einen Heuschober, in den sie sich verkrochen. Da schliefen sie
behaglich und warm. Und als es Tag wurde, erwachten sie erfrischt und munter.
Das
Wetter war ein wenig diesig. Die Wolken hingen tief, es sah nach Regen aus.
Urmel
und Schusch verließen ihr gemütliches Hotel. Sie hörten es von weit her in
raschen Abständen rauschen, nach der Art von pfeifenden Windböen. Neugierig,
aber auch vorsichtig näherten sie sich diesem Geräusch, und als es sehr nahe
war, hielt sich das Urmel hinter einem Busch versteckt. Schusch flatterte in
eine Baumkrone. Von dort hatte er einen guten Ausguck und konnte selbst doch
kaum gesehen werden, zwischen all den frischen Blättern. Er beäugte alles, was
er unten sah, mit großer Aufmerksamkeit und kehrte dann zum Urmel zurück, um
ihm zu berichten: »Es äst eine Straße. Das heißt, eigentläch sänd es zwei
Straßen. Auf der einen Straße kommen dä Autos von dort, auf der anderen von
dort. Also dä einen fahren dahän, wo dä anderen herkommen, kapärt? Und da äst
auch noch eine Einfahrt, so ein großer Bogen, und gerade da steht ein sehr
nettes Mädchen.«
»Wie
Naftaline? Was macht sie?«
»Sä
steht nur da und hält ämmerzu den Daumen hoch.«
»Vielleicht
hat sie Wehweh? Sieh noch mal nach.«
Schusch
sah nochmals nach und konnte dem Urmel bald erzählen, daß dem jungen Mädchen,
falls es Wehweh am Daumen gehabt hatte, sächer bald geholfen würde: »Ein Auto
hat angehalten und sä mätgenommen.«
»Ich
habe auch Daumenwehweh und lasse mich mitnehmen«, entschied das Urmel.
Schusch
hatte es längst aufgegeben, dem Urmel abzuraten. »Ärgendwä wärd dä Sache schon
schäfgehen. Und dann kommen wär wäder nach Tätäwu, also wozu dä Aufregung!« Er
bezog Posten zwischen den Zweigen im Baumwipfel und schaute dem Urmel zu, wie
es sich an den Rand der Autobahn stellte und den kleinen Daumen hochhielt, als
ob er blutete.
Nun
war gerade an diesem Morgen eine polizeiliche Suchmeldung durchgegeben worden,
im Radio, und die meisten Autofahrer hörten den Verkehrsrundfunk: »Gesucht wird
ein Urmel«, und dann folgte die nähere Beschreibung. Allerdings war das
Ergebnis dieser Suchmeldung etwa so wie das folgende Gespräch zwischen einem
Herrn und einer Dame: »Was kann das sein, ein Murmel?«
»Ach,
ein neues Waschmittel, oder ein Weichspüler.«
»Werbung?«
»Klar.
Kormel zwingt Grau rein und Weiß raus. Wirst sehen, irgendwann kommt die
Erklärung. Ein raffinierter Werbetrick ist das. Er soll uns nur besonders
aufmerksam machen. Aber daß man die Polizei benachrichtigen soll, finde ich,
geht eigentlich zu weit.«
Ja,
die Dame im Auto fand auch, daß das zu weit ging, und steckte sich eine
Zigarette zwischen die Lippen.
Unentwegt
hielt das Urmel den Daumen hoch. Die meisten Autofahrer aber rasten so, daß sie
es nur undeutlich wahrnahmen. Nur so viel konnte jeder selbst in sausender
Fahrt und schon von weitem erkennen: Schön war das Mädchen nicht, das da stand.
Oder war es eine Werbefigur aus Plastik? Und doch hatten jener Herr und jene
Frau, die sich eben über die Unsitten der modernen Werbung einig geworden
waren, Mitleid mit der traurigen Gestalt, die sie weit voraus am Straßenrand
erblickten. »Wo es doch sicher bald regnen wird.« Der Fahrer nahm das Gas etwas
zurück, um sich den Anhalter etwas genauer anzusehen, ehe er ihn zum Einsteigen
einlud.
Er
hatte aber noch nicht einmal gebremst, da packte ihn seine Mitfahrerin schon
unvorsichtig am Arm. Sie schrie: »Gib Gas, ein Krokodil!«
Der
freundliche Autofahrer ließ nun selbst den Gedanken fahren, diesen Anhalter
mitzunehmen. Er preschte los, aber nur bis zur nächsten Tankstelle, wo ein
Telefon war.
Schusch
hörte zuerst das Martinshorn, und dann sah er das Polizeiauto mit Blaulicht. Er
stürzte zum Urmel hinab und rief: »Hau ab, Polente! Oder wällst du däch
einfangen lassen?«
Schon
war das Polizeiauto da, es fuhr scharf an den Straßenrand, auf den Rasen, und
bremste. Die beiden
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