Urod - Die Quelle (German Edition)
mit ihr auf den Armen davon laufen. Enza hatte doch selbst mit einem von ihnen gekämpft. Sie wusste doch genau, was sie jetzt erwartete. In dem Moment wurde es ihm klar. Natürlich wusste sie es. Er hatte sie falsch verstanden. Sie meinte nicht die Urods - sie meinte sich selbst.
Ihm stockte der Atem.
„Enza, das… Ich kann das nicht.“
„Du kannst und du wirst. Was glaubst, was sie mit mir machen. Bitte, hilf mir! Ich flehe dich an. Mach schnell, wir haben keine Zeit.“
Sebastian wusste, dass sie recht hatte. Er wusste auch, dass es ein humaner Akt sein würde, sie zu töten. Und dass er genau das Gleiche von ihr verlangt hätte. Bevor er den Gedanken in seiner ganzen Tragweite erfassen konnte, stimmte er zu.
„In Ordnung.“
Die Urods bewegten sich langsam auf die beiden zu. Immer noch abwartend. Es schien sie zu irritieren, dass Enza und Sebastian nicht angriffen. So als vermuteten sie eine Falle oder ähnliches.
„Du musst sie ablenken. Feuer.“
Jetzt erinnerte sich auch Sebastian an das Deospray in seiner Hosentasche. Er griff hinein und zog es heraus. Doch er fand das Feuerzeug nicht.
„Scheiße. Ich hab' das Feuerzeug verloren.“
„In meiner Hosentasche“, murmelte Enza.
Sebastian ging in die Hocke. Langsam, sehr langsam. Die Urods hielten sofort inne. Sebastian fragte sich, was sie so vorsichtig sein ließ. Konnte es sein, dass sie ihren toten Kumpel gefunden und jetzt einen gehörigen Respekt vor ihnen entwickelt hatten. Er empfand eine tiefe Genugtuung darüber. Ohne den Blick von ihnen zu lassen, tastete er nach Enzas Hosentasche. Ihre Hose war nass vor Blut. Durch den Stoff ihrer Jeans konnte er das Feuerzeug fühlen. Für eine Sekunde wandte er die Augen von den Urods ab und griff Enza in die Tasche. Er zerrte das Feuerzeug hervor. Enza schrie auf vor Schmerz. Das gellende Geräusch durchdrang die Stille und schien sie in Wallung zu bringen wie ein Stein, der auf die glatte Oberfläche eines Sees trifft. Sowohl die Urods als auch Sebastian wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Die Urods bewegten sich. Sebastian musste schnell machen. Er legte das Messer beiseite und entzündete das Feuerzeug. Die Urods standen jetzt direkt vor ihm. Er schüttelte das Deo heftig und besprühte dann die Flamme. Ein Feuerball schlug den Urods entgegen. Sie kreischten und suchten Deckung. Einer der Urods urinierte vor Schreck auf den Boden. Es hatte funktioniert.
Hastig schnappte Sebastian sich das Messer und beugte sich über Enza. Um ihr jedwedes Leiden zu ersparen, musste er direkt in ihr Herz treffen. Sanft legte er seine Hand auf ihre Brust, spürte ihren Herzschlag. Ein langsames Pochen. Viel langsamer als sein eigenes. Und schon schwach. Bereit, gleich aufzuhören. In wenigen Sekunden. Das Leben anzuhalten.
Er hob seinen Arm, umklammerte das Messer fest und konzentrierte sich auf den Punkt, an dem eben noch seine Hand gelegen hatte. Enza sah ihn an. Flehend und gleichzeitig in Todesangst. Sie packte seinen anderen Arm, hielt ihn fest. Für einen Moment dachte er, sie habe es sich anders überlegt.
„Ich danke dir. Und jetzt tu's. Bitte!“
Sebastian merkte, wie ihm die Tränen die Wangen herunter rannen. Er schloss die Augen und zwang seine Hand, etwas zu tun, das sein Verstand um jeden Preis vermeiden wollte. Dann rammte er Enza mit aller Kraft das Messer ins Herz. Ein erschütterndes Geräusch war zu hören, so als zerreiße jemand Seide. Sebastian warf einen kurzen Blick auf Enzas Brustkorb. Das Messer steckte genau an der richtigen Stelle. Enzas Kehle entrang sich ein kehliger Laut und ihr Oberkörper bäumte sich auf. Dann erschlaffte ihr Leib. Ohne eine weitere Sekunde zu verschwenden, zog Sebastian das Messer wieder aus ihrer Brust und ging in Angriffsposition.
Von Enza kam kein Laut. Gut. Sie musste es geschafft haben. Jetzt ging es ihr bestimmt besser.
Als er zu Urods herüber sah, bemerkte er, dass sie ihn beobachteten. So als sei er ein seltenes Tier, dessen Verhalten sie faszinierte. Im schoss ein Gedanke durch den Kopf: Konnte er sie derart verwirrt haben, dass sie ihn gehen lassen würden? Die Explosion, Enzas Tod. Vielleicht brachte sie das dazu, so etwas wie Angst vor ihm zu entwickeln. Ganz vorsichtig beugte er sich hinunter, schnappte sich die Taschenlampe und strahlte die Urods damit an. Dann machte er einen Schritt in die Richtung, die ihn aus dem Felsen hinausführen würde. Die Urods starrten ihn weiterhin an, rührten sich aber nicht. Sebastian schöpfte Hoffnung.
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