Urod - Die Quelle (German Edition)
ihnen standen. In dem Halbdunkel konnte er nur ihre Silhouetten ausmachen, doch auch die ließen ihn erschauern. Sie machten kein einziges Geräusch. Sebastian war sich nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, als überlegten sie, was zu tun sei. Er zwang sich, noch schneller zu klettern. Dabei stieß er sich die Knie an den scharfen Felsspitzen auf, die immer wieder aus dem Gestein herausragten, doch er achtete nicht auf den brennenden Schmerz. Er musste runter. Sofort. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie begriffen, dass sie lediglich das Seil lösen mussten, mit dem er gesichert war, um ihn auszuschalten.
Die Silhouetten verschwanden aus seinem Blickfeld, aber das beruhigte Sebastian nicht. Sein Herz pochte in seinem Brustkorb, als wolle es sich selbst hinauskatapultieren. Das alles erschien ihm wie ein Alptraum. Unwirklich und unmöglich. Doch er hörte nicht auf zu klettern. Er war noch nicht bereit, zu sterben.
Dann konnte er hören, wie die Urods abzogen. Er hörte ihre schweren Schritte und ihr Keuchen. Das konnte nicht sein. Das wäre zu einfach. Irgendwas hatten sie vor.
Doch Sebastian hatte keine Zeit weiter darüber nachzudenken. Durch irgendein Wunder war ihm ein bisschen Zeit geschenkt worden. Vielleicht waren sie doch nicht so schlau, wie sie alle angenommen hatten. Vielleicht waren sie aber noch viel schlauer?
Sei's drum.
Sebastians Füße berührten festen Boden. Er war noch nie in seinem Leben erfreuter gewesen als jetzt. Er nestelte an seinem Geschirr, zerrte es sich ungeduldig vom Leib, lief zur Taschenlampe, klaubte sie vom Boden auf und suchte Enza. Er fand sie unweit von sich auf dem Boden liegend. Ihr Knie war in einem anomalen Winkel abgeknickt. Sebastian wurde bei dem Anblick übel. Enza lag mit dem Gesicht zum Abgrund, sodass Sebastian nicht sehen konnte, ob sie noch lebte. Er kniete sich neben sie und legte sanft eine Hand auf ihren Rücken. Er konnte spüren, dass sie noch atmete. Widerstreitende Gefühle durchfuhren ihn. Es wäre einfacher gewesen, wenn sie den Absturz nicht überlebt hätte. Einfacher für sie beide. Gleichzeitig war er bestürzt über diese Gedanken.
„Enza. Komm schon, sag was!“
Sie murmelte etwas, doch er konnte nicht verstehen, was sie sagte. Er beugte sich über sie. Ihre Augen waren geöffnet und sie murmelte erneut etwas, das er nicht verstand. Aber es klang dringlich. Er hielt sein Ohr ganz dicht an ihren Mund.
„Urods.“
„Keine Angst. Sie sind umgekehrt. Aber wir müssen uns beeilen, sonst…“
Enza röchelte. Ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet. Sebastian verstand plötzlich, was sie meinte und empfand überwältigendes Mitleid.
„Nein, ich lass nicht zu, dass sie dich kriegen. Wir schaffen das schon.“
Doch Enza schüttelte unter enormen Anstrengungen den Kopf und schloss verzweifelt die Augen. Sie hob ihren Arm. Wie in Zeitlupe bewegte sie sich. Sebastian starrte sie verwirrt an.
Was zum Teufel tat sie da?
Ein plötzliches Geräusch hinter ihm ließ ihn innerhalb einer Millisekunde klar sehen. Enza versuchte auf etwas zu zeigen. Sie wollte ihn warnen.
Er wirbelte herum. Zwei Urods waren die Felswand herab geklettert und setzten nun zum Sprung auf den Boden an. Sie waren dabei so leise gewesen wie Chamäleons. Darauf war Sebastian nicht vorbereitet.
Die Urods sprangen.
Sebastian wusste, dass er sie nicht würde besiegen können. Er wusste, dass sie ihm haushoch überlegen waren, aber er würde sein Bestes geben. In der Eile hatte er seinen Pickel oben vergessen, aber eines der großen Messer steckte in seinem Hosenbund. Er griff danach.
„Ich habe dich geliebt, Viola“, dachte er und als ihm bewusst wurde, dass er die Vergangenheit benutzt hatte, drehte sich ihm der Magen um.
Enza stöhnte und rief seinen Namen.
Die Urods standen ein paar Meter von Sebastian entfernt und beäugten ihn und Enza abschätzend. Als hätten die beiden auch nur die geringste Chance gegen sie. Doch dessen schienen sie sich nicht bewusst zu sein. Noch hielten sie sich zurück. Sebastian neigte seinen Kopf zu Enza hinunter.
„Was ist?“
Enza hustete und stieß einen tierischen Laut aus vor Schmerz.
„Überlass mich ihnen nicht.“
Sebastian musste fast lachen. Glaubte sie wirklich, er könne sie retten. Er konnte sich ja nicht mal selber helfen.
„Enza, das…“
Doch weiter kam er nicht.
„Nimm das Messer. Und mach schnell!“
Was dachte sie sich nur? Sollte er mal eben rüber spazieren, den beiden die Kehlen aufschlitzen und dann
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