Urod - Die Quelle (German Edition)
schützen. Enza schlussfolgerte aus den verblüfften Reaktionen der anderen, dass es sich um ein besonderes Fundstück handeln musste. Etwas, das selbst Oktaeteris in den Schatten stellte. Sie betrachtete das Fries genauer, das aus fünf separaten etwa 60 x 60 cm großen szenischen Reliefs bestand, die in einer Reihe angeordnet waren. Das sechste Relief bestand lediglich aus der Umrahmung und war nicht mehr erhalten oder konnte nicht fertig gestellt werden. In dem unablässig strömenden Regen konnte Enza das nicht genau ausmachen.
Thomas, Sebastian und Viola standen über das Fries gebeugt, steckten die Köpfe zusammen und beleuchteten gemeinsam die einzelnen Szenen. Enza war auf die äußerste rechte Seite ausgewichen, um das Artefakt ebenfalls genauer in Augenschein nehmen zu können.
Das erste Relief zeigte Sterne, die vom Himmel auf einen Berg oder ein Gebirge fielen. In der Mitte prangte das Abbild einer Frau, neben der ein Löwe zu sehen war. Rechts von den beiden war ein Mann zu sehen, um dessen Arm sich eine Schlange ringelte. Die zweite Szene zeigte ein Gebilde, das wie ein leicht geöffneter Mund aussah. Enzas erste Assoziation dazu war eine Vagina. Direkt daneben stand wieder die Frau mit dem Löwen, die auf das Gebilde wies. Auf dem dritten Relief war ein Mann zu sehen, der eine Art Helm auf dem Kopf trug und etwas, das für Enza wie eine kurze Toga aussah. Auf dem Boden, neben seinen Füßen lag ein Speer und er hatte beide Hände in die Luft gestreckt und stemmte offenbar ein Pferd in die Höhe. Das nächste Relief bestand aus vielen deutlich modellierten Regentropfen, die auf acht üppig wirkende Bäume herabtropften. Enza musste nicht Archäologie studiert haben, um ein Déjà-vu zu erleben und zu begreifen, dass sie in genau jener Landschaft stand, die sie dort auf dem Fries abgebildet sah. Die fünfte Szene hingegen war für Enza schwer zu deuten, sie verstand nicht, was dort dargestellt sein sollte. Scheinbar war darauf derselbe Mann abgebildet wie im vierten Relief, er trug zumindest die gleiche Kleidung und hatte seine Hände auf den Kopf gelegt, neben dem ein zweiter Kopf zu sehen war, der irgendwie deformiert wirkte. Auch wuchsen ihm offenbar diverse andere Gliedmaßen aus dem Körper, die ihn wie eine Gottesanbeterin aussehen ließen, wie Enza fand. Sie konnte sich auf all das keinen Reim machen und Viola, Sebastian und Thomas ging es wohl nicht viel anders, denn sie waren in eine angeregte Diskussion verstrickt, was genau ihnen das Fries erzählen wollte. Lea hatte sich neben sie gestellt und betrachtete sehr konzentriert das Fries, ohne sich an der Diskussion zu beteiligen.
„ Jetzt erklärt mir doch mal, warum ihr so aus dem Häuschen seid und was das alles zu bedeuten hat", sagte Enza.
„ Das ist ein zwei- bis dreitausend Jahre altes thrakisches Fries. Die Darstellungen darauf sind sehr ungewöhnlich. Weder Sebastian noch Thomas oder ich haben sie je gesehen", entgegnete Viola.
„ Und was bedeuten sie?" fragte Enza und wischte sich den Regen aus den Augen.
Thomas leuchtete das erste Relief an.
„ Die Sterne, die hier vom Himmel fallen, waren vielleicht Sternschnuppen. Ich schätze, sie sind in einer Nacht vermehrt aufgetreten, sodass sie als eine Art göttliches Zeichen gedeutet wurden."
„ Und wie kommst du darauf?" fragte Enza und stellte sich direkt neben Viola, um besser sehen zu können. Sie konnte spüren, dass Viola vor Kälte zitterte und nahm den schwachen Duft ihres Parfüms wahr. Mit einem Mal fühlte sie sich befangen und rückte unmerklich etwas von ihr ab. Viola wies auf das Bild mit der Frau und dem Löwen.
„ Diese Frau hier soll die Muttergöttin darstellen. Jedenfalls ist der Löwe ihr Attribut. Du kennst sie vielleicht unter dem Theonym, Kybele. Oder Demeter?" ergänzte Viola, als sie Enzas fragenden Gesichtsausdruck sah. Enza nickte vage und Viola fuhr fort. „Daneben der Mann ist ihr Sohn. Sabazios oder auch Zagreus genannt. Sein Attribut ist die Schlange, die sich um seinen Arm ringelt. Die beiden bilden die obersten Gottheiten der Thraker und waren das sakrale Zentrum der thrakischen Glaubensvorstellungen und Kulte."
„ Dann haben die Thraker die Sternschnuppen als eine Art Zeichen ihrer höchsten Götter gedeutet?"
Viola sah Sebastian und Thomas an. Die beiden hatten keine Einwände.
„ Und dieses Ding hier? Was soll das sein? Ein Mund? Eine Vagina?" fragte Enza und begann nun selber zu bibbern.
Viola strich sich ihre nassen Haare aus dem
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