Urod - Die Quelle (German Edition)
Gesicht und neigte den Kopf, um besser sehen zu können.
„ Also das neben dem "Ding" ist auf jeden Fall wieder die Muttergöttin. Aber dieses komische Gebilde habe ich noch nie gesehen", sagte Sebastian.
„ Ich glaube, Enza hat Recht mit der Vagina", warf Thomas ein. „Mir ist das zwar in der Kombination auch noch nie begegnet, aber ich schätze, es soll Fruchtbarkeit oder etwas in der Art symbolisieren."
„ Die vierte Szene mit dem Regen und den Bäumen scheint eine Entsprechung dazu zu sein. Ein fruchtbares Fleckchen Land in dieser trockenen Gegend. Was auch immer diese üppige Vegetation begünstigt, für die Thraker war es ein Beweis der Heiligkeit dieses Ortes. Deswegen haben sie Oktaeteris begonnen", überlegte Sebastian.
„ Sagt mal, irre ich mich, oder trägt dieser Typ dort sein Pferd?" rief Enza.
Viola, Thomas und Sebastian machten ratlose Gesichter. Es war Lea, die sich, kaum hörbar, dazu äußerte.
„ Ich denke, das soll die Stärke und Kraft der Reiter symbolisieren, die bei den Thrakern besonders verehrt wurden. Hier die phrygische Mütze", sie wies auf die Kopfbedeckung des Mannes, „und der Chiton", sie zeigte auf sein Gewand „weisen eindeutig auf einen thrakischen Reiter hin."
„ Eine derartige Symbolik ist mir vorher noch nie untergekommen", meinte Sebastian zweifelnd.
„ Mir auch nicht", sagte Viola. „Ich verstehe, ehrlich gesagt nicht, was das fünfte Bild darstellen soll. Da haben wir den thrakischen Reiter. Soweit ist alles klar. Aber wieso sieht der Kopf neben ihm so seltsam aus? Zuerst dachte ich, es sei Pan..."
„ Nein. Dann doch eher Zerberus," erwiderte Sebastian. Sein regennasser Mund versprühte feine Tropfen im grellen Licht der Lampen.
„ Aber der hat drei Köpfe und hier sind eindeutig nur zwei abgebildet. Außerdem sind es ganz klar Menschenköpfe, nicht die von Hunden. Jedenfalls der des Reiters. Der andere wirkt irgendwie tierisch. Und diese komischen Glieder, die ihm da aus dem Körper wachsen. Was soll das sein?", rätselte Thomas.
„ Vielleicht haben die einzelne Szenen überhaupt nichts miteinander zu tun", mutmaßte Enza.
„ Nein", sagte Sebastian entschieden, „Die Thraker waren eine orale Kultur. Sie haben nichts schriftlich festgehalten. Stattdessen gab es diese Art Comics, in denen sie von ihren Bräuchen und Kulten erzählten. Das hier steht eindeutig in einem Zusammenhang. Die Frage ist: Welche Geschichte wird erzählt?"
Thomas hatte schon seit einer Weile auf die Bilder geschaut, doch sein Blick ging ins Leere, wie bei einem Menschen, der tief in Gedanken verheddert ist. Plötzlich beleuchtete er aufgeregt das letzte Relief des Fries'.
„ Wartet mal! Wartet! Ich weiß, was es heißen soll. Zagreus, der Befreier. Nicht jeder Gott der Thraker befreite - aber Zagreus tat es. Er war aber auch ein Gott, der nicht über dem Menschen war, sondern ihn ergriff. Das heißt, der Gott war in dem Menschen. Genau darum geht es hier. Der thrakische Reiter, der Mensch, wird von Zagreus ergriffen, verleiht ihm unsagbare Stärke", sein zitternder Lichtkegel wies auf das Relief, in dem der Reiter zu sehen war, der ein Pferd in die Höhe stemmte, „und der sich schließlich mit dem Göttlichen vereint."
„ Klingt einleuchtend, aber warum ist Zagreus dann im letzten Relief so deformiert dargestellt? Und was haben diese abstrusen Gliedmaßen zu bedeuten?" fragte Viola.
„ Könnten doch Schlangen sein. Zagreus' Schlangen. Der Künstler hatte vielleicht 'n schlechten Tag?" scherzte Enza.
Sebastian warf ihr einen spöttischen Blick zu.
„ Vielleicht wird hier aber auch die mythologische Legende von Zagreus erzählt", spekulierte Thomas.
„ Und wie geht die gleich wieder?" fragte Enza und tänzelte auf und ab, um ihre nassen, kalten Füße aufzuwärmen.
Lea, der die kühle Nässe so gar nichts auszumachen schien, ergriff hastig das Wort wie eine eifrige Schülerin, die froh war, endlich auch mal etwas zum Unterricht beisteuern zu können.
„ Zeus hat mit Persephone einen Sohn gezeugt, der Zagreus hieß und in der Lage war, sich jederzeit in ein Tier zu verwandeln. Sie haben ihn vor der eifersüchtigen Hera in einer Höhle versteckt. Aber Hera schickte die Titanen aus, um Zagreus zu töten, was ihnen auch gelang. Sie rissen ihn in sieben Teile und haben ihn gebraten und gefressen. Zeus wurde daraufhin fuchsteufelswild und tötete die Titanen mit einem Blitz. Sie zerfielen zu Staub. Im Regen vermischte sich der Staub mit den Überresten von Zagreus zu
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