Urod - Die Quelle (German Edition)
herauf. Es musste dort unten also einen Gang geben, der nach draußen führte. Sebastian entfernte das Seil von seinem Gürtel.
„ Das sind schätzungsweise sechs bis acht Meter. Höchstens. Wir könnten versuchen auf dem Felsvorsprung zu landen, um von dort nach ganz unten zu klettern.“
Viola war skeptisch.
„ Glaubst du wirklich, dass Lea da alleine runter geklettert ist?" fragte sie.
„ Ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass sie überhaupt so weit hier rein gegangen wäre. Selbst wenn sie vor ’nem Tier oder so etwas fliehen musste“, meinte Thomas.
„ Nein, das sicher nicht. Aber vielleicht ist sie von draußen direkt unten in den Gang gelaufen. Lasst uns runter klettern und sehen, wo wir rauskommen“, sagte Sebastian.
Thomas musste zugeben, dass sie diese Möglichkeit in Betracht ziehen sollten. Sie kannten das Gelände nicht. Wer weiß, was es für versteckte Eingänge zum Felsen gab. Vielleicht kauerte sie da unten und konnte nicht aufstehen, weil sie sich was gebrochen hatte. Gleichzeitig dämmerte ihm, dass Sebastian von Anfang nicht geglaubt hatte, dass Lea hier war. Er wollte sich nur umsehen und die Lage sondieren. Die ganze Aktion hatte sie wertvolle Zeit gekostet, sonst nichts. Er und Viola hatten sich, wie so oft, von Sebastian überrennen lassen. Thomas wurde wütend. Vielleicht war die Stunde, die sie hier drin verbracht hatten, Leas Todesurteil. Vielleicht hätten sie sie in der Zeit längst finden und retten können. Tief in seinem Inneren ahnte Thomas, dass Lea verloren war. Doch das konnte und wollte er nicht in sein Bewusstsein dringen lassen. Er klammerte sich an seinen Groll auf Sebastian, war jedoch besonnen genug, ihn zu zügeln. Immer noch war er unsicher, ob Sebastian vielleicht doch wusste, was zwischen ihm und Viola schwelte.
„ Was machen wir hier? Ich meine, was sollte das alles überhaupt? So finden wir sie doch nie. Die Arme sitzt vielleicht irgendwo im Wald auf einem Baum und fürchtet sich zu Tode und wir rennen hier im Dunkeln herum und können nichts für sie tun..." sagte Viola und ihre Stimme klang schrill.
Sie war verzweifelt. Thomas gab ihr im Stillen recht, aber er wusste auch, dass es gar nichts brachte, wenn sie sich von ihrer Verzweiflung übermannen ließen. Sie mussten Ruhe bewahren. Er klang beherrscht, als er ihr antwortete.
„ Was Sebastian gesagt hat, ist gar nicht so verkehrt. Wir wissen nicht, von wo aus man überall in den Felsen hinein gelangen kann. Lass uns runter klettern und sehen, was wir finden. Aber vor allem müssen wir ruhig bleiben. Ok?!"
Bei seinen letzten Worten legte er Viola eine Hand auf die Schulter. Sofort spürte er den Blick Sebastians, der sich in seine Wange zu bohren schien und zog die Hand schleunigst wieder weg. Einbildung oder Tatsache? Thomas wurde noch verrückt. Er musste aus der Dunkelheit heraus. Hier hatte er den Eindruck, von seinen widerstreitenden Gefühlen zerfetzt zu werden. Nur raus ans Tageslicht und an die frische Luft, um erst einmal durchzuatmen.
„ Also gut. Du gehst zuerst, ich sichere hier oben. Wenn du auf dem Vorsprung bist, klettert Viola zu dir runter und dann ich“, sagte er hastig.
Schweigend machten sie sich an die Vorbereitungen. Viola hielt sich dabei im Hintergrund. Obwohl Thomas sie in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte, spürte er ihre Anwesenheit deutlich. Er vermied es, sie in irgendeiner Weise anzusehen aus Angst, sich vor Sebastian zu verraten. Sebastian war aufgestanden, hatte sich die Taschenlampe in sein Hosenbund gestopft und suchte nach einer Möglichkeit, den Kletterhaken zu befestigen. Dabei rutschte er aus und fiel rücklings in den Schacht. Viola schrie auf, als sie den Fall registrierte. Doch Thomas reagierte innerhalb von Sekundenbruchteilen und konnte ihn im letzten Moment an der Hand festhalten. Der Ruck war gnadenlos, als Sebastians ganzes Gewicht Thomas nach unten zog. Sein verletzter Zeh stieß gegen einen Stein und ein glühender Schmerz schoss ihm das Bein hoch bis in die Genitalien hinein. Thomas wollte schreien, wusste aber, dass er dann an Kraft verlieren würde und unterdrückte den Impuls mühsam. Er glaubte zerrissen zu werden zwischen dem Schmerz in seinem Fuß und der Last, die er in seiner rechten Hand hielt. Er wusste, wenn er loslassen würde, wäre Sebastian tot. Und für einen ganz kurzen Moment erschien ihm das plötzlich wie die perfekte Lösung für alles. Es wäre ein Unfall. Etwas, das Sebastian selbst verschuldet hatte. Es wäre
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